Einfach einzuordnen ist die Kunst von Francisco Sierra nicht. Er bewegt sich zwischen Fotorealismus und Surrealismus. Ein augenzwinkernder Widerspruch – irritierend und charmant zugleich.
Kunstmuseum St.Gallen | Francisco Sierra
Klassische Malerei, zeitgenössisch interpretiert
Bereits zum 12. Mal wird im Jahr 2013 der MANOR-Kunstpreis St.Gallen vergeben: der diesjährige Preisträger ist Francisco Sierra. Der 1977 in Chile geborene Künstler übersiedelte 1986 mit seiner Familie in die Schweiz und wuchs in Herisau und St.Gallen auf. Die atemberaubende Perfektion seiner fotorealistischen Malerei und die vielschichtigen Motive mit charmant ironischer Zeitkritik fanden bereits grosse Resonanz. Wie zeitgenössische figurative Malerei aussehen könnte, auf diese Frage hat Francisco Sierra gleich mehrfache Antworten. Die unerwarteten Verschiebungen in Form und Material der dargestellten Dinge machen sein Werk doppelbödig und irritierend zugleich und damit faszinierend zeitgenössisch, gerade weil es sich auf die grossen klassischen Traditionen der Malerei beruft. Die Objekte sind kaum je das, was sie vorzugeben scheinen.
Surrealer Fotorealismus
So wie Francisco Sierra die Fallgruben der zeitgenössischen fotografischen Abbildung und die transformierenden Möglichkeiten der Malerei interessieren, so elegant reflektiert er surrealistische und konzeptuelle Bildvorstellungen, die immer wieder auf die Alltäglichkeit der gesehenen Dinge zurückfallen. Der virtuose Umgang mit Material, Objekt und Suggestion vereint sich beim Betrachter zu einem eindrücklichen visuellen Erlebnis.
Formology of Avalon
Mit seiner Werkreihe «Formology of Avalon» begibt sich der Künstler auf die Reise zum mythischen Ort Avalon der Artussage. Die insgesamt sieben grossformatigen Bilder (170 × 130 cm) der Serie zeigen alle abstrakte Reliefs. Ausgangspunkt der Arbeiten sind comicartige Strichzeichnungen in Bleistift, die der Künstler rasch und in Serien zeichnet. Diese Zeichnungen bildet der Künstler im gleichen A4-Format in einem gipsartigen Material nach. Es entstehen weisse Reliefplatten mit dreidimensionalen gegenstandslosen Strukturen, deren Konturlinien den vorangehenden Zeichnungen entsprechen. Und hier nun setzt das schlüssig Visuelle seiner akribisch nach dem Erscheinungsbild gemalten Bilder ein. Changierende Weisstöne bestimmen die abstrakten kleinen Reliefs, doch die Farbe Weiss kommt auf den Gemälden nicht mehr vor. In unendlich differenzierten Annäherungen einer minutiös entwickelten Pinseltechnik, die mit fotografischem Blick Dinge wirklichkeitsgetreu abbildet, entfernt sich Sierra vollständig von den Vorlageobjekten, gerade weil er sie so realistisch abbildet. Die Objekte werden auf der grossformatigen Leinwand nochmals neu erfunden. Sie dienen nunmehr als Ausgangspunkt eines malerischen Prozesses, der die Wahrnehmung des Objektes mit Hilfe einer differenzierten Pinselsprache erfahrbar macht.
Kunstmuseum Solothurn
Die Schlüsselfrage der bildenden Kunst nach den Abbildungs- und Wahrnehmungsmechanismen steht im Zentrum dieser Recherche. Die faszinierende Überanschaulichkeit des Bildes lässt uns die eigene Betrachtungsweise wie durch ein Brennglas nochmals neu erleben. Ergänzend zur Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen findet noch bis 2. Februar 2014 im Kunstmuseum Solothurn parallel eine Präsentation mit Zeichnungen von Francisco Sierra statt. Ein gemeinsamer, reich illustrierter Katalog begleitet die beiden Ausstellungen.