Geri Krebs hat Stefan Haupt getroffen und damit jenen Regisseur, der den meist gehypten neuen Schweizer Film am Zurich Film Festival 2025 verantwortet. Im Interview spricht der Zürcher Regisseur über die Herausforderung, ein literarisches Jahrhundertwerk zu verfilmen, das bisher als unverfilmbar galt und wie man es schafft aus einem 460 Seiten starken Roman einen hundertminütigen Film zu machen.
Stefan Haupt | STILLER
- Publiziert am 25. September 2025
Mit Stefan Haupt sprach Geri Krebs
arttv.ch: Wie haben Sie es geschafft, sich dieses Romans erfolgreich anzunehmen – einem Roman, der als unverfilmbar galt?
Stefan Haupt: Die Initialzündung stammt nicht von mir, sondern vom Produzenten Peter Reichenbach von C-Films. Er hat mich nach unserem Erfolg mit ZWINGLI zum Abendessen eingeladen und mir dabei eröffnet, dass es Zeit wäre, deutschsprachige Weltliteratur zu verfilmen, das gäbe es viel zu wenig. Dabei habe er an Max Frisch gedacht. Daraufhin sagte ich sofort: Stiller. Denn spätestens seit ich 20 bin, bin ich ein grosser Fan von Frisch. Ich habe fast alles von ihm gelesen. Zudem bin ich seit vielen Jahren mit Julian Schütt befreundet, dem Autor, der kürzlich den Wälzer «Max Frisch – Biographie einer Instanz» publiziert hat.
Wie schreibt man aus einem 460 Seiten starken Roman ein Drehbuch für einen hundertminütigen Film?
(lacht). Sie haben den Film gesehen, das können Sie selber beantworten. Nein, ernsthaft, da möchte ich zuerst kurz auf Alex Buresch eingehen, den deutschen Co-Autor des Drehbuchs. Er wurde mir von Anne Walser, Produzentin bei C-Films, vorgeschlagen.
Sie kannten ihn noch nicht?
Nein, aber das war vielleicht eher ein Gewinn. Er ist leitender Dozent an der Filmakademie Baden-Württemberg für den Studiengang Drehbuch und hat in letzter Zeit für mehrere Fernsehfilme und Tatorte das Drehbuch verfasst. Mit ihm und mit mir kamen zwei Autoren mit ziemlich unterschiedlichem Hintergrund zusammen. Er bringt sehr viel handwerkliches Know-how mit. Hingegen steht ein Autoren- oder Künstlergen nicht so sehr im Vordergrund. Wenn wir nicht derselben Meinung waren, konnte er lächelnd sagen: Du musst es ja dann inszenieren … Das gab uns beim Schreiben – das zum grossen Teil über Zoom stattfand, – eine grosse Entspanntheit, wie ich sie in diesem Ausmass zuvor noch nie erlebt habe. Wir waren uns rasch einig, dass wir die inneren Monologe des Romans radikal zurückstutzen und auch den ganzen letzten Teil des Buches weglassen würden. Wir mussten uns beschränken, wir wollten keinen hochliterarischen Film machen, sondern wir suchten nach der Handlung. Das hiess, dass wir uns leider von vielen tollen Geschichten im Buch trennen mussten.
Sie befinden sich in exzellenter Gesellschaft, was Versuche betrifft, diesen Roman aus dem Jahr 1954 zu verfilmen: Wim Wenders soll im Jahr 1980 fast ein halbes Jahr in Zürich verbracht haben, um ein Drehbuch zu schreiben. Er gab auf, als im Frühsommer die Jugendunruhen ausbrachen. Er verliess Zürich, weil er fand, es seien jetzt keine Zeiten für eine Klassikerverfilmung. Wissen Sie Genaueres über die Anekdote?
Ich kenne nur den ersten Teil – das mit den Jugendunruhen höre ich zum ersten Mal. Ich habe gelesen, dass Wenders den Versuch abbrach, weil er merkte, dass er sowohl zur Stadt Zürich als auch zu Frischs Roman keinen wirklichen Zugang fand. Aber es haben sich ausser Wenders noch andere an den Stoff gewagt und sind nicht weitergekommen. Anthony Quinn zum Beispiel war ein Fan der Figur des Stiller, hätte sie gerne gespielt. Auch Volker Schlöndorff interessierte sich für die Verfilmung von «Stiller» wie von «Homo Faber», entschied sich dann aber für letzteren. Und lange Jahre optionierte eine US-Produzentin die Rechte, scheiterte aber an der Finanzierung. Ausserdem hatte Max Frisch selber den Wunsch nach einer Verfilmung. Er traf sich zusammen mit seiner damaligen Frau Marianne mit Marcello Mastroianni in Rom. Max Frisch hätte sich aber in erster Linie Luchino Visconti als Regisseur gewünscht. Aus mir unbekannten Gründen wurde auch daraus nichts.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum all diese Versuche gescheitert sind?
Ich kann nur spekulieren. Die grösste Schwierigkeit einer filmischen Umsetzung liegt sicher darin, dass im Roman von James Larkin White – also dem Mann, der darauf beharrt, nicht der gesuchte Stiller zu sein – und ebendiesem Anatol Stiller die Rede ist. Wir lesen von den beiden Männern, machen unser eigenes Bild von ihnen, sehen sie aber nicht. Doch Film arbeitet mit realen Bildern, wir müssen die Männer zeigen! Es würde für die Zuschauer:innen rasch langweilig werden, wenn man von Beginn an Albrecht Schuch sehen und sogleich klar würde, dass er eben nicht dieser White, sondern tatsächlich Stiller ist.
Wie haben Sie dieses Dilemma gelöst?
Es war ein grosser Glücksfall, dass wir mit Sven Schelker einen Schauspieler fanden, der dem White-Darsteller Albrecht Schuch sehr ähnlich sieht. Sven spielt Stiller in der ersten Hälfte, danach wechselt die Besetzung langsam zu Albrecht, sodass die beiden mit der Zeit fast zu einer einzigen Person werden.
Kannten Sie die beiden Schauspieler bereits?
Albrecht Schuch kannte ich nicht. Er war mir von der deutschen Castingagentur vorgeschlagen worden. Als ich Albrecht sah, erinnerte ich mich an Sven Schelker, der ja bereits in DER KREIS eine Hauptrolle gespielt hatte.
Der Film ist mit Paula Beer, Max Simonischek, Stefan Kurt und Marie Leuenberger auch in den wichtigen Nebenrollen prominent besetzt. Wie konnten Sie so ein All-Star-Ensemble verpflichten?
Mit Ausnahme von Paula Beer, die mir ebenfalls von der deutschen Castingagentur vorgeschlagen
wurde, habe ich mit den anderen zuvor gearbeitet: Max Simonischek war ZWINGLI. Auch Stefan Kurt hatte dort mitgespielt, während Marie Leuenberger in DER KREIS mit von der Partie gewesen war.
Sie waren 30, als Max Frisch 1991 verstarb. Sind Sie ihm persönlich begegnet?
Ich liess mich zum Theaterpädagogen ausbilden. Als ich noch an der Schauspielakademie war, leitete ich nebenher einen Chor. Mit diesem erarbeiteten wir ein experimentelles Konzert: Kein Stiller Abend. Im Zentrum sollte die Höhlengeschichte aus dem Stiller-Roman stehen. Als ich die Idee dazu hatte, sah ich nachts Max Frisch im Gespräch mit dem damaligen Grossmünsterpfarrer draussen vor dem Cafe Select. Ich sprach ihn an und fragte, wie das mit den Autorenrechten funktioniert. Er sagte bloss: Schreiben Sie dem Suhrkamp-Verlag einen Brief. Die werden Ihnen eine abschlägige Antwort geben. Danach kommen Sie zu mir und ich gebe Ihnen die Rechte. So hatte ich also die Ehre, einmal bei Max Frisch zu Hause sein zu dürfen. Er gab mir dort die schriftliche Erlaubnis zur Verwendung des besagten Textes – für ein Honorar von 200 Franken.
Die Schweizer Premiere von STILLER findet am Zurich Film Festival als Galavorführung im Kino Corso statt. Vor fünf Jahren waren Sie mit ZÜRCHER TAGEBUCH, ihrem vorherigen Film, erstmals mit einer Weltpremiere am ZFF vertreten. Sie sind selber gebürtiger Zürcher und leben hier. Wie ist Ihr Verhältnis zu diesem Festival in Ihrer Heimatstadt?
Ich war von 2008 bis 2010 Präsident des Verbands Filmregie und Drehbuch Schweiz (ARF/FDS). In dieser Funktion habe ich mich mit der damaligen Leitung des ZFF ausgetauscht, um die Verbindung der Schweizer und Zürcher Filmbranche mit dem Festival zu intensivieren. Wir fanden, das ZFF solle nicht allzu sehr nur nach Hollywood blicken, sondern ganz bewusst das Schweizer Filmschaffen miteinbeziehen. Was in der Folge auch geschah. Seit Christian Jungen das ZFF leitet, also 2020, behält Hollywood zwar seine unangefochtene Wichtigkeit, doch der Schweizer Film spielt eine prominentere Rolle als vor Jungens Zeit. Man sieht das daran, dass in den letzten Jahren grosse Schweizer Publikumsfilme (2024: TSCHUGGER und FRIEDAS FALL) mit schöner Regelmässigkeit ihre Welt- oder Schweizerpremiere feierten.
Die Weltpremiere Ihres Films fand im Juni am Filmfest München statt. Wie wurde er dort aufgenommen?
Durchwegs positiv. Es wurde mir wieder bewusst, dass Max Frisch heute in Deutschland mindestens so bekannt und beliebt ist wie in der Schweiz. An den Schulen wird «Stiller» sogar häufiger als Unterrichtsstoff behandelt als bei uns in der Schweiz, wo eher «Homo Faber» oder «Biedermann und die Brandstifter» im Vordergrund stehen.
Wir danken für das Gespräch und wünschen viel Erfolg mit STILLER.