HELDIN von Petra Volpe feierte an der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere. Wen immer man auch fragte, alle waren vom Film begeistert. Die Geschichte einer Pflegefachfrau erinnert anfänglich an einen Dokumentarfilm und entwickelt sich dann immer mehr zu einem Realthriller. Doris Senn hat die erfolgreiche Drehbuchautorin und Regisseurin Petra Volpe getroffen. Im Interview erzählt diese unter anderem, warum ein Leben zwischen Berlin und New York nötig ist, um gute Drehbücher zu schreiben.
Petra Volpe | HELDIN
«Toll war, dass ich 50 Pflegefachkräfte mit auf den roten Teppich und die Bühne nehmen konnte.»
Mit Petra Volpe sprach Doris Senn
Sie feierten die Weltpremiere von HELDIN an der jüngsten Berlinale. Wie war das?
Es war ein Traum, der wahr wurde! Ich habe in Berlin Film studiert und war in jüngeren Jahren regelmässig an der Berlinale, die für mich eine zweite Filmschule war. Ausserdem ist Berlin eine meiner Herzensstädte, und ich habe viel Wahlfamilie dort. Toll war, dass wir bei der «Berlinale Special Gala» 50 Pflegefachkräfte mit auf den roten Teppich und die Bühne nehmen konnten. Die Weltpremiere war insgesamt ein sehr emotionaler Moment – und das im Zoo-Palast mit 800 Plätzen!
Sie leben zwischen Berlin und New York – sind der Schweiz in Ihren Drehbüchern und Filmen aber nach wie vor sehr verbunden: mit HEIDI, DIE GÖTTLICHE ORDNUNG, den Serien FRIEDEN oder NEUMATT. Wie händeln Sie diese verschiedenen Lebens-Bezugspunkte?
Ein wichtiger Aspekt des Kreativseins ist für mich die Distanz. Nah ist mir meine Heimat nur schon dadurch, dass ich hier aufgewachsen bin. Die Schweiz hat mich kulturell geprägt. Aber ich brauche Distanz für die Arbeit – etwa für das Drehbuch: Ich schreibe, lege es weg für zwei Wochen, lese es wieder… Aber auch für meine Themen. Deshalb ist mein Unterwegssein auch kein Widerspruch, sondern eine Notwendigkeit und eine Möglichkeit, in einen Austausch zu treten.
Auch HELDIN spielt in der Schweiz. War es von Beginn weg klar, dass Sie den Film hier drehen?
Kann sein, dass dieser Film in seiner Art, mit seiner Radikalität, nur in der Schweiz entstehen konnte. Klar, hätte man den Film auch in Deutschland drehen können, wo die Situation in der Pflege noch akuter ist. Doch der produktionstechnisch kleine Kreis im Rahmen der Schweizer Produktion Zodiac Pictures ermöglichte die nötige «Intimität» für gewisse Entscheidungen.
Woher und wann kam die Idee für den Film?
Ich lebte in Berlin lange mit einer Pflegefachfrau zusammen und bekam die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen mit. Zudem ist die Pflege ein grosses gesellschaftspolitisches Thema – nicht erst seit Covid. Und es geht um einen Frauenberuf, der nur schon deswegen hintangestellt wird. Diese geschlechterspezifische Ungerechtigkeit macht mich als Feministin wütend. Ich suchte nach einer Form und fand sie mit der Lektüre des Buchs «Nicht unser Beruf ist das Problem. Es sind die Umstände» von Madeline Calvelage: eine Schicht, eine Frau – und was passiert, wenn jemand fehlt. Beim Lesen hatte ich das Gefühl, ich lese einen Thriller und dass dies als Form funktionieren könnte
In einem Gespräch zu HELDIN sprechen Sie von «Eskalationsdramaturgie». Könnten Sie das ausführen?
Es ist eine Dramaturgie, die auch für mich neu war: keine klassische 3-Akt-Struktur, in der sich die Figuren entwickeln, sondern einem Schneeball ähnlich, der immer schneller rollt. Es beginnt damit, dass Floria zu Beginn ihrer Schicht einem Kollegen hilft – das bringt sie schon in Verzug. Im Lauf des Films eskaliert das mehr und mehr. Dies wiederum beinhaltet erzählerisch eine besondere Herausforderung: Die Spannung muss gehalten werden, gleichzeitig braucht es Pausen, emotionale Momente, die Platz bieten – etwa für eine Patientengeschichte. Aber dies immer und konsequent aus der Sicht von Floria. Hier die richtige Mischung zu finden, war tricky.
Eine solche Erzählweise bedingt nicht nur eine starke Protagonistin, sondern auch eine Kamera, die der Hauptfigur ständig nah ist. Zuerst zur Schauspielerin: Zu welchem Zeitpunkt fiel die Wahl auf Leonie Benesch?
Leonie war früh eine Option. Doch befürchtete ich, dass sie keine Zeit hat. Nach einem breiten Casting, in dem ich «meine» Floria nicht fand, fragten wir sie schliesslich doch an. Und tatsächlich reizte sie die Rolle – vor allem, dass sie so «physisch» war. Weil ich in New York war, fand das Casting via Zoom statt. Ich «glaubte» ihr die Pflegefachfrau ab dem ersten Satz. Die Authentizität, die sie verkörpert, war für den Film enorm wichtig.
Eine ganze Reihe von Handgriffen prägt Florias Rolle: das Hände-Desinfizieren, Spritzen aufziehen, Infusionen wechseln… Wie hat sich Leonie Benesch auf die Rolle vorbereitet?
Sie war eine Woche lang in einem Spital und schaute sich alles ganz genau an. Die Selbstverständlichkeit der Gesten wollte und sollte sie verinnerlichen. Unsere Fachberatung, Nadja Habicht, war mit ihr einen Tag unterwegs und meinte: Leonie sei ihre beste Schülerin gewesen! [Lacht] Zudem hatte sie den Ehrgeiz, alles richtig zu machen. Nicht zuletzt aus Respekt dem Beruf gegenüber. Die einzelnen Handlungen standen akribisch genau schon im Drehbuch: Sie nimmt das, legt es auf den Tisch, nimmt etwas anderes in die Hand… Alle sollten wissen, was genau in der Szene passiert – daraus besteht die Action in HELDIN! Gleichzeitig musste Leonie noch Gespräche mit den Kranken führen… Für mich als Regisseurin war es der technisch aufwendigste Film, den ich je gemacht habe.
Wie war die Zusammenarbeit mit Kamerafrau Judith Kaufmann?
Unser Konzept war, konsequent in der Perspektive von Floria bleiben. Es sollte viele Plansequenzen geben, um mit Floria in einen Flow zu kommen. Dafür war eine grosse Choreografie notwendig. Zudem war das Spital eine Herausforderung: weisse Wände, uniforme Räume… Wie macht man das attraktiv? Wie kreiert man eine wechselnde Atmosphäre, die der Stimmung der Patient:innen entspricht und ihre Geschichte über Licht und Raum miterzählt?
Der Film zeigt, dass die Erwartung an die Pflegenden teils riesig sind. Floria bleibt dabei ruhig und hilfsbereit. Ist sie eine idealisierte Figur?
Im Gegenteil. Sie ist auch knallhart pragmatisch. Eigentlich wollen alle in diesem Beruf auch Menschlichkeit: Trost geben, Ruhe vermitteln – was sich für Krankenkassen aber nicht abrechnen lässt. Es ist ein technisch hoch komplexer Beruf – gleichzeitig liegt aber das psychologische Handling von Patient:innen und Angehörigen ebenfalls bei den Pflegenden. Was für viele sogar ausschlaggebend dafür ist, den Beruf auszuüben! Andererseits gab es tatsächlich einen Versuch, die Krankenpflege nach dem Modell des Autobaus auszurichten und eine Abteilung zu «streamlinen». Eine komplette Fehlhaltung dem Beruf gegenüber!
Auch der Tod findet Eingang in HELDIN – auf eine sehr realitätsnahe, aber auch surreale Art und Weise…
Der Tod schwingt immer mit bei den Themen Krankheit oder Spital. Diese spezielle Storyline war inspiriert von einer Erzählung über eine junge Pflegefachfrau, die es rein zeitlich nicht schaffte, ins Zimmer einer Patientin zu gehen. Als etwas passierte, löste das grosse Schuldgefühle aus, was mich wahnsinnig betroffen machte: Die Umstände waren schuld, aber das Schuldgefühl traf die Pflegende… Mit meinem Film wollte ich nicht zuletzt dies aufzeigen: nämlich, dass die ultimative Konsequenz unserer Haltung von «das geht dann schon irgendwie…» und «wir können Stationen auch unterbesetzen…» irgendwann ihren Preis verlangt – für uns als Patient:innen oder Angehörige.
Haben Sie schon ein nächstes Projekt?
Das «Remake» eines eigenen Drehbuchs: DIE GOLDENEN JAHRE, das Barbara Kulcsar verfilmt hat. Da bin ich aber noch ganz am Anfang. Damals konnte ich nicht selbst die Regie übernehmen, weil ich an einem andern Projekt war, einem Gefängnisfilm, an dem ich seit zehn Jahren arbeite. Diesen Film über einen Männerknast in den USA – eine Schweizer Produktion – drehen wir nun im Frühjahr. Nach der Kino-Tour gehe ich direkt in die Vorbereitung für den Dreh.
Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg mit HELDIN und die nächsten Projekte!