«Nemesis» ist unerwartet, wuchtig, zart und schmerzhaft zugleich. Es ist eine über zweistündige Beobachtung des Regisseurs, der von seinem Haus aus in Zürich einen direkten Blick auf den alten Güterbahnhof hat, der dem Abbruch geweiht ist. Filmjournalistin Madeleine Hirsiger hat sich für arttv.ch ausführlich mit dem dokumentarischen Denkmal auseinandergesetzt und das vielschichtige Werk rezensiert.
Nemesis
arttv Rezension
«Nemesis» ist ein eigenwilliger Film. Die über zweistündige Beobachtung von Thomas Imbach zeigt, wie vor seinem Haus in Zürich ein alter Güterbahnhof abgebrochen wird. Während sieben Jahren hat der Schweizer Filmemacher die Veränderungen auf dem weitläufigen Gelände von seinem Fenster aus mit der Kamera festgehalten: der Abriss des historischen Gebäudes aus dem 19. Jahrhundert und der Aufbau des riesigen Polizei- und Gefängniskomplexes. Aus der Perspektive von oben. In klar einzuordnenden Bilder. Schonungslos und faszinierend.
Es ist ein komplexer, vielschichtiger Film: jede Aufnahme erzählt eine Geschichte, manchmal nur erhascht, nie bedeutungslos. Es sind Geschichten, die ihre Wurzeln in unserer Existenz, in unserem Menschsein haben. Schon am Anfang wird man auf den Ton des Filmes eingestimmt: ein nicht sichtbarer Arbeiter schiebt mit seinem Luftbläser einen halb verrotteten Apfel und ein gebrauchter Gummihandschuh vor sich hin – eine unbedeutende Szene, aber eine mit einer gewissen Faszination. Man schaut hin, ohne sich zu langweilen. Diese Art des Erzählens zieht sich durch den ganzen Film. Dann der brutale Abriss des historischen Güterbahnhofs, einst eine stolze Anlage der Stadt Zürich, die nun geschleift werden muss, um dem gigantischen Bauvorhaben Platz zu machen. Es soll ein Gebäude der Ordnung und der Strafe entstehen. Die Baubewilligung hat sich über Jahre hingezogen, bis endlich grünes Licht gegeben wurde.
Vieles ist im Zeitraffer gedreht – und wenn es mit dem Abriss emotional zu viel wird, lässt Imbach den Film ein Stück rückwärts laufen, und der alte, dem Tode geweihte Backsteinbau setzt sich kurz wieder zusammen, verleiht vermeintliche Hoffnung. Doch der in die Mauern knallende Bagger ist unerbittlich, durch nichts aufzuhalten – ein Sinnbild für die Zerstörung unserer Lebensräume. Es gibt kein Entrinnen. Und wenn alles weg ist, fein säuberlich abgetragen, wird das Gelände akkurat planiert. Ein logistisch beeindruckendes Unterfangen kann beginnen. Bald setzt der durchdringende Lärm eines Presslufthammers ein, um Löcher in die Erde zu bohren. Das Aufstellen von unendlich langen Holzwänden soll jegliches unbefugte Betreten verhindern. Man sieht ein paar Arbeiter, die diese Arbeit verrichten, gemächlich, in einer fast leeren Umgebung. Es könnte auch ein Stück Wüste sein.
Aber dann kommt allmählich Leben auf, die Bilder beginnen sich zu füllen, mit Menschen – Männern – zuerst sind es Planer, Ingenieure, Architekten, Vermesser. Später kommen die ersten Bauarbeiter dazu, die orangen, die grün-orangen, die gelben, die blauen, die weiss-roten, die von Marti, Anliker, Eberhard, Arge, hrs, dem Kopf des ganzen Unternehmens.
Es sind die kleinen Geschichten, die dem Film etwas Poetisches, Eindringliches verleihen, etwas zutiefst Menschliches auch. Wir werden Zeugen von Verborgenem: ein sich küssendes Liebespaar auf einem Parkplatz, einzelne Figuren, denen Thomas Imbach nachgeht, lange nachgeht, er lässt sich Zeit, keine Hetze, ein Fuchs, der sich auf dem Bauplatz umsieht, ein nächtlicher Spaziergang eines Mannes mit seinem Hund, Sightseeing-Touren auf dem Bau-Areal, ein Arbeiter, der fast liebevoll den restlichen Sand eines entladenen Güterwagons wegwischt, das Verteilen von Osterhasen, einen für jeden, und wie sie sich freuen, die starken, unverwüstlichen Bauarbeiter, die vor Wind, Regen und Schnee nicht zurückschrecken, harte Kerle, vor allem die aus Südeuropa, die Archaischen, oft von ländlicher Herkunft, stolz sind sie auf ihr Können, auf ihre Teilhabe an einem grossen Bauwerk. Und habe ich auf dem Balkon einer Holzbaracke – wohl eines der Baubüros – nicht kurz Tomatenstauden gesichtet, blühende Stauden?
Es sind faszinierende Aufnahmen, die sich durch «Nemesis» hindurchziehen. Immer vom Fenster der Wohnung des Regisseurs aus gedreht. Man hört Stimmengewirr, und ohne etwas zu verstehen, aber man kann sich einen Reim daraus machen. Und dann sind da die wunderbaren Texte, wenige, aber berührende. Über Freunde, die nicht mehr sind, wie der Filmemacher Peter Liechti, verwoben mit beklemmenden Aussagen von Asylbewerbern, die in Ausschaffungshaft sind. Diese traurigen Geschichten knüpfen an das an, was auf dem grossen Feld auch gebaut wird – eben ein Gefängnis.
Meisterlich ist der Film auch in der Montage. Da tanzen Baukräne im Abendrot und mit Sand beladene Lastwagen fahren die Rampen rauf und runter, im Schnellgang, ein vergnügliches Spektakel. Gedreht wurde analog auf 35mm, meistens 3 Bilder/Sekunde, um den Zeitraffer möglich zu machen und auch um Zeit und Geld zu sparen. Da beim Drehen keine Direkttöne aufgenommen wurden, haben Thomas Imbach und Peter Bräcker für das Sound-Design alles gegeben. Eine beeindruckende Tonspur wurde kreiert, komponiert mit Geräuschen, Effekten und Songs, die Hand in Hand gehen und die Aussage der Bilder verstärkt: eine äusserst aufwendige Arbeit, die zum Gelingen dieses aussergewöhnlichen Films beiträgt.
«Nemesis» ist ein wichtiges Stück Kino, das den Menschen ins Zentrum in der heutigen Zeit stellt. Nemesis, die griechische Rachegöttin, die Göttin des gerechten Zorns, der ausgleichenden Gerechtigkeit. Sie hat uns einiges zu sagen!
Madeleine Hirsiger, arttv.ch
Zum Film
«Nemesis» widmet sich der Zerstörung eines einzigartigen Bahnhofs in Zürich und dem Neubau eines Gefängnis- und Polizeizentrums an seiner Stelle. Aus der Perspektive vom Fenster des Filmemachers, begleitet von den Aussagen mehrerer Ausschaffungshäftlinge, dokumentiert der Film, wie wir mit der Auslöschung von Geschichte und ihrem Ersatz durch totale Sicherheit umgehen. (Synopsis)