Interview - Un beau matin: «Liebe, um dem Tod zu entgehen, ist menschlich»
- Publiziert am 13. Dezember 2022
Mit Mia Hansen-Løve und über ihren Film «Un beau matin» sprach Ondine Perier
Mia Hansen-Løve über ihren Film «Un beau matin» und das Gefühl, wenn intensives Glück und tiefste Trauer aufeinander treffen. Aber auch, warum die französische Regisseurin eine Affinität zur deutschen Kultur hat und was der Grund dafür ist, dass sie ihre Wege künftig ziemlich oft nach Zürich führen.
Mit Mia Hansen-Løve sprach Ondin Perier
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Geschichte von Sandra, einer verwitweten Mutter, die Geschichte Ihres kranken Vaters und auch noch eine Liebesgeschichte gleichzeitig zu erzählen?
Aus der Erfahrung heraus, dass Trauer und Wiedergeburt nebeneinander existieren können. Wie intensiv diese Momente sind. Und die Tatsache, dass sie einem das Gefühl geben, dem Kern der grossen Fragen des Daseins näher zu kommen. Diese Dualität hat mich interessiert: diese Art von Trauer und gleichzeitig die Wiederentdeckung des eigenen Körpers und der Sexualität; und das Glück, das dieser Zustand hervorrufen kann. Die Kraft, die er uns gibt, die Trauer zu überwinden. Es war dieser Kontrast, dieses Paradoxon, das mich interessierte.
Ihr Film ist auch ein Liebesfilm!
Ich denke, es wäre üblich gewesen, entweder eine Liebesgeschichte oder eine Trauergeschichte zu erzählen. Ich habe mich dafür entschieden, zwei Dinge zu verbinden und dem einen genauso viel Raum zu geben wie dem anderen; das ist meine Art, mich dem Kino in einer komplexen Form zu nähern.
Haben Sie die Geschichte in Ihrem Film persönlich erlebt?
Ja , ich habe solche Erfahrung gemacht. Ich habe sie übrigens auf 1000 Arten gemacht. Mindestens zwei Mal in meinem Leben habe ich sie extrem gespürt: diese doppelte Erfahrung von Trauer und Wiedergeburt.
Es scheint kompliziert zu sein, wenn man etwas Anstrengendes erlebt, daneben etwas Leichtes und Erfreuliches zulassen zu können.
Man kann sich das nicht unbedingt aussuchen. Einige Leute sind zu mir gekommen und haben gesagt: «So wie du das in deinem Film zeigst, habe ich das auch erlebt». Natürlich gibt es Zeiten, in denen man das Gefühl hat, dass man dem Unglück nicht mehr entkommt, aber es gibt auch andere Zeiten, in denen man gleichzeitig intensives Glück und grenzenlose Trauer erleben kann. Das ist sehr schwindelerregend und verwirrend. Das schafft Schuldgefühle in Bezug auf das Glück, das man erlebt. Aber gerade die Liebe, um dem Tod zu entgehen, ist etwas Menschliches, und ich glaube, davon wollte ich sprechen.
Georg ist Philosophieprofessor; das Milieu der Figuren ist sehr intellektuell, wie in Ihrem vorherigen Film «Die Zukunft”», warum diese Wahl?
In meinem Film geht es um den Niedergang eines Mannes, für den die Krankheit umso grausamer ist, weil sie sein Denken, seine Argumentationskraft angreift. Für ihn ist das als Intellektueller besonders grausam, da er jemand ist, der nach Klarheit strebte. Plötzlich findet er sich in der Unklarheit wieder.
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Sagen Sie etwas über das Milieu in dem Ihr Film spielt!*
Die Tatsache, dass der Vater wieder in seine Wohnung zurückgehen muss und sie ihn später von Heim zu Heim bringen müssen, hat mit Geldmangel zu tun. Es ist das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, das Milieu, das ich am besten kenne. Bei Georgs Mutter – die meine eigene Grossmutter ist – sieht man, dass sie in einer sehr bescheidenen Wohnung lebt, und das erzählt auch etwas über Georgs Herkunft.
Die Tatsache, dass Sie Ihre eigenen Grossmutter in den Film integriert haben, hat den autobiografischen Teil der Erzählung noch verstärkt.
Ja bestimmt. Es war ein grosser Trost für mich, sie im Film zu wissen. Auf die Szene mit ihr, werde ich oft angesprochen. Das erfüllt mich mit Freude, weil es mit dieser Szenen beinahe nicht geklappt hätte. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich mit ihr überhaupt drehen konnte. Wir haben im letzten Moment entschieden es zu machen, weil ich aufgrund ihres Alters und ihrer eingeschränkten Mobilität nicht sicher war, ob ich sie den Dreh schafft.
Wir leiden als Zuschauer:in beim Hindernislauf der Familie mit, ein angemessenes Heim für Georg zu finden. War es Ihnen wichtig, auf die herrschenden Missstände im Heimwesen hinzuweisen?
Ich bin dieser Problematik nicht ausgewichen, wollte sie aber auch nicht betonen. Es gibt genügend Filme, die das tun. Aber wenn ich Filme mache, versuche ich, so nah wie möglich an der Realität zu sein, denn ich habe das durchgemacht, als ich meinen Vater auf seiner medizinischen Irrfahrt begleitet habe. Ich habe all die Lücken des Systems und all die Gewalt gesehen, die es aufgrund der fehlenden Mittel ungewollt geben kann. Ich habe erlebt, wie das Leiden der Familien, die ihre Angehörigen begleiten, Kraft kostet. Das Gefühl der Ohnmacht ist etwas, das ich als besonders schwierig empfunden habe.
Aber es war nicht alles schlecht?
Nein, Ich habe auch Orte erlebt – ich versuche, all diese Nuancen zu respektieren -, an denen mein Vater sehr gut gepflegt wurde. Dank wunderbaren Menschen, die sich anders als andernorts liebevoll um ihn kümmerten. Das war sicher nur möglich, weil diese Pfleger:innen selbst auch besser von ihren Institutionen behandelt werden. Es gibt eine ganze Palette von Möglichkeiten. Ich wollte die Dinge so zeigen, wie sie halt sind, so roh und wahrheitsgemäss wie möglich.
Im Gegensatz zu Georgs, können für andere Menschen neurodegenerative Krankheiten im Alter auch etwas Befreiendes sein, wie bei Sandras Mutter, die sehr redselig und rebellisch wird.
Ihre Figur hat mich sehr interessiert. Ich finde es schön, dass es möglich ist in Momenten, in denen man am Leben verzweifelt und denkt, dass alles nur zu Leid führt, eine ganz andere Sicht auf das Älterwerden zu gewinnen. Man darf miterleben, wie Menschen, die einem nahestehen, sich nochmals aufbäumen und sich neu erfinden. Ich wollte dem einen Platz geben. Diese Erfahrung ist etwas, was mir auch persönlich in meinem Leben immer wieder hilft.
Ich habe eine enorme Sanftheit und viel Wohlwollen in Ihrem Film empfunden.
Das ist gut so. Ich fand das Thema hart und brutal genug, und wollte keine zusätzlichen zwischenmenschlichen Konflikte hinzuzufügen. Ich habe den Eindruck, dass das Kino oft künstlich nach Konflikten sucht und dass das nicht richtig ist.
Wie war es, die Schauspieler:innen zu führen?
Ich hatte das Glück, von Schauspieler:inen umgeben zu sein, die wirklich zuhörten, insbesondere Pascal Gregory, der eine besonders heikle Rolle hatte und wusste, dass ich diese Art von Krankheit aus eigener Anschauung kannte.
War es kompliziert für ihn, einen physisch und geistig eingeschränkten Mann zu spielen?
Im Gegenteil, es machte ihm Spass. Auch wenn er natürlich einigen schwindelerregenden Fragen, die man sich in Bezug auf das eigene Altern stellen kann, am nächsten kam (Anm. d. Red.: Gregory ist 67) . Aber gleichzeitig glaube ich, dass es für ihn eine spielerische Dimension hatte, sonst hätte er es nicht machen können.
Léa Seydoux’ Spiel in Ihrem Film wurde in den höchsten Tönen gelobt. War es eine Herausforderung, sie zu führen?
Man hat sie in den letzten Jahren in vielen Filmen als herausragende Schauspielerin gesehen.
Sie hat Figuren gespielt, die von Glamour umgeben waren. Sie spielte in Filmen von Desplechin, Dumont, Cronenberg exzentrischere Frauen. Frauen, die die Blicke der Männer auf sich zogen und auch durch einen männlichen Blickwinkel definiert waren. Männliches Begehren war bisher ein gemeinsamer Nenner all ihrer Rollen. In meinem Film ist es ganz anders: Sie ist nicht einfach nur ein Objekt der Begierde, das man aus der Distanz geheimnisvoll betrachtet. Dennoch gibt es nicht weniger Mysterien um sie. Ich hatte den Eindruck, dass Léa Seydoux mit der Rolle in meinem Film alle ihre schauspielerischen Tricks ablegte, an die sie gewöhnt war.
Die deutsche und sogar die schweizerdeutsche Kultur wird in Ihrem Film immer wieder erwähnt, haben Sie eine besondere Affinität zu diesen Kulturkreisen?
Mein Vater ist in Wien geboren und aufgewachsen, er war Übersetzer und ich habe Deutsch studiert. Ich habe also nur schon aus familiären Gründen eine Affinität zur deutschsprachigen Kultur. Ausserdem habe ich ein Projekt, das mich ziemlich oft nach Zürich führen wird.
Können Sie uns ein paar Worte dazu verraten?
Es handelt sich um eine Serie über das Leben von Annemarie Schwarzenbach.