Der Filmjournalist Simon Spiegel erhält den Grand Prix Pathé 2017 – den Preis für die beste Filmkritik. Wie sieht es aber mit der Filmkritik in zehn Jahren aus, welchen Einfluss hat sie auf uns, und warum ist «The Sixth Sense» ein schlechter Film? arttv.ch hat nachgefragt.
INTERVIEW | SIMON SPIEGEL
- Publiziert am 9. Februar 2017
Simon Spiegel, können Sie sich an Ihre erste professionelle Filmkritik erinnern?
Selbstverständlich, das war «Hulk», eine Verfilmung des gleichnamigen Marvel-Comics von Ang Lee im Sommer 2003. Lee hat ja dann zwei Jahre später auch «Brokeback Mountain» gemacht.
Wie sind Sie zur Filmkritik gekommen?
Ich interessiere mich seit meinem 16. Lebensjahr brennend für Filme und hatte schon in jungen Jahren eine Website, auf der ich meine Kritiken veröffentlichte. Ich habe mich dann bei Karin Müller, welche die Filmseite der Basellandschaftlichen Zeitung betreute, beworben. Meine Texte gefielen ihr, und so habe ich mehrere Jahre für die BZ geschrieben. Das Erste, was Müller damals sagte, war: «Aber leben können Sie davon nicht!»
War Filmjournalist Ihr Traumberuf?
Eigentlich wollte ich Filmregisseur werden. Das hat nicht geklappt, darum habe ich Filmwissenschaft studiert.
Welches Genre innerhalb des Films spricht Sie besonders an?
Mein Spezialgebiet ist der Science-Fiction-Film. Ich würde mich aber nicht als echten Fan bezeichnen. Generell interessieren mich Filme am Rande des Mainstreams. Also Filme, die klar auf der Tradition des Mainstreams aufbauen, aber damit spielen. Ein gutes Beispiel dafür ist Jim Jarmusch. Seinen neuesten Film «Paterson» kann ich übrigens nur empfehlen. Jarmusch kennt das Mainstream-Kino sehr genau, macht aber immer Dinge, die davon abweichen. Das gilt auch etwa für Stanley Kubrick oder die Brüder Coen. Auch wenn diese Beispiele möglicherweise nicht besonders originell sind, so sind es doch genau solche Filme, die mich am meisten interessieren.
Wie verhält es sich mit anderen Genres?
Ich interessiere mich für viele Genres, aber reine Kunstfilme sind weniger mein Ding. Da hänge ich dann schon schneller mal ab.
Viele Kritiker können mit Mainstream-Filmen nicht viel anfangen.
Sie anscheinend schon?
Ob das tatsächlich stimmt, weiss ich nicht. Ich kenne z.B. kaum einen Kritiker, den die schiere visuelle Energie von «Mad Max: Fury Road» nicht begeistert hat. Selbst wenn man mit Science Fiction und post-apokalyptischen Szenarien nichts am Hut hat – wenn man ein bisschen was von Filmen versteht, muss man einfach erkennen, dass dieser Film handwerklich herausragend ist. Ich bin auf jeden Fall ein Fan von gutem Handwerk. Einen gut gemachten Mainstream-Action-Film ziehe ich einem ambitionierten Problemfilm, der auf halber Strecke scheitert, jederzeit vor. Leider gibt es nicht allzu viele grosse Mainstream-Filme, die wirklich gut sind. Aber der erste «Back to the Future»-Film von Robert Zemeckis ist beispielsweise in seiner Art perfekt. Oder, wenn wir weiter zurück gehen, die Filme von Billy Wilder finde ich ebenfalls ganz toll.
Haben Sie unter den Filmen, die in den letzten zehn Jahren ins Kino kamen, einen Favoriten?
Ja, «Under the Skin» von Jonathan Glazer mit Scarlett Johansson in der Hauptrolle. Da werden sämtliche Regeln des Science-Fiction-Genres unterlaufen. Ein Film, bei dem man sich streiten kann, ob er überhaupt noch Science Fiction ist.
Im Jahre 2003 ist Ihre erste professionelle Filmkritik erschienen. Seither hat sich medial, nicht zuletzt durch das Internet und die sozialen Medien, sehr viel verändert. Wie sehen Sie die Zukunft der Filmkritik?
Ganz klar, der qualifizierten Filmkritik geht es heute im deutschsprachigen Raum sehr schlecht. Da spielten die Online-Medien natürlich eine wichtige Rolle, ich denke allerdings, dass die Gratis-Zeitungen am Niedergang der Tagespresse und somit auch an der Filmkritik, beziehungsweise dem Kulturjournalismus insgesamt, einen grösseren Anteil haben. Das Problem ist, dass man davon ausgeht, dass im Netz alles gratis sein muss. Das fördert die Qualität natürlich nicht.
Wie sollen die Printmedien sich verhalten?
Anders, als sie es jetzt tun. Sie müssen mit den entsprechenden Fachleuten auf Qualität setzen. Eine Pay-Wall für Medien im Onlinebereich ist deshalb unumgänglich. Wenn es darauf hinausläuft, dass selbst sogenannte Qualitätszeitungen Honorare zahlen, für die nur noch Studenten arbeiten können, läuft etwas falsch. Wenn ich mehrere hundert Franken für ein Abonnement zahle, erwarte ich Fachkompetenz, die sich über lange Jahre angereichert hat.
Die Zeitungen stehen aber unter einem grossen ökonomischen Druck!
Das ist mir schon klar. Der Weg muss aber trotzdem sein, dass ernst zu nehmende Medien, ob Print oder Online, mehr Geld ausgeben, um die journalistische Qualität zu erhöhen. Gerade beim Kulturjournalismus und insbesondere bei der Filmkritik geschieht seit Jahren das Gegenteil. Als ich mit Schreiben begann, hatte die NZZ vier festangestellte Filmkritiker, heute ist es noch eine.
Denken Sie, das haben die Qualitäts-Medien erkannt?
Da bin ich leider nicht sehr optimistisch. Wenn ich mich auf die Filmkritik beziehe, muss ich bedauerlicherweise festhalten, dass diese mehr und mehr zu einem Hobby verkommen ist. Als ich begann, konnte man als freier Kritiker noch irgendwie von seinem Beruf leben, heute ist das unmöglich geworden. Ich werde zwar regelmässig für Texte angefragt, aber zu Honoraren, für die ich es mir schlicht nicht leisten kann, einen halben Tag zu arbeiten. Das muss man für eine fundierte Kritik mindestens aufwenden und das hat halt auch seinen Preis, seinen Wert. In der Deutschschweiz gibt es vielleicht ein halbes Dutzend Leute, die in einer Festanstellung über Filme schreiben.
Was macht eigentlich eine gute Filmkritik aus?
Sie ist auf jeden Fall mehr als eine blosse Kaufempfehlung. Eine gute Filmkritik sagt nicht einfach: Das ist gut oder schlecht, sondern leistet eine Einordnung, eine Analyse. Sie ist selbst dann lesenswert, wenn man als Leser anderer Meinung ist. Ein gutes Beispiel waren für mich die Opernkritiken von Peter Hagmann, der sich leider nach dreissig Jahren Tätigkeit als Musikredaktor der NZZ zur Ruhe setzte. Ich versteh überhaupt nichts von Opern, gehe auch nie in eine Aufführung, dennoch las ich Hagmanns Texte immer mit Hochgenuss. Ganz einfach, weil sie interessant waren. Für mich als Leser eröffnete sich eine Welt, weit über das Stück hinaus. Und genau das leistet im Idealfall eine gute Kritik. Die ganze Sternchenkritik wird dem Kino auf alle Fälle nicht gerecht.
Welchen Einfluss haben Filmkritiken auf das Konsumverhalten?
Eigentlich keinen oder nur einen ganz geringen. Es können alle Filmkritiker gemeinsam Filme wie «The Da Vinci Code» von Ron Howard oder «Transformers» von Michael Bay in der Luft zerreissen. Das ändert nichts daran, dass diese dann doch alle Besucherrekorde brechen. In einem kleinen Bereich wie dem Arthouse-Film ist das allenfalls anders. Hier ist das Problem, dass diese Filme oft nicht genug lang im Kino laufen, bis die positiven Besprechungen wirken.
Sie sehen keine Chance für die Filmkritik?
Ja und nein. Das Angebot an Filmen ist heute so gross wie nie, eigentlich wäre kompetente Einordnung nötiger denn je. Vielerorts scheint man das aber nicht zu erkennen. Beim «Züritipp» wurde beispielsweise kürzlich Thomas Bodmer pensioniert – seine Stelle wird nicht neu besetzt. Auf der anderen Seite besteht die Chance, sich in Nischen zu behaupten, indem wir z.B. für Fachzeitschriften wie das «Filmbulletin» schreiben. Ich hoffe wirklich, dass wenigstens solche fachspezifischen Medien überleben können. Aber es ist schwierig.
Sie haben das «Filmbulletin» erwähnt. Darin betreiben Sie die Kolumne «Spoiler». Was muss man sich darunter vorstellen?
Ausgangslage war, dass mich das ganze Spoilergetue wahnsinnig nervte. Kommt ein Film ins Kino, schreien gleich alle: Achtung Spoiler! Spoiler!. Viele Leute regen sich auf, wenn andere das Ende eines Films z.B. im Internet preisgeben. Sie denken, der Film sei dann nicht mehr interessant und das Verraten der Geschichte schade dem Film. Das ist aber schlicht Blödsinn. Ein guter Film lebt vom Rhythmus, von der Musik, der schauspielerischen Leistung, von Emotionen, gewaltigen Bildern. Darum geht man ins Kino. In meiner Kolumne analysiere ich deshalb Dinge, die wegen der allgemeinen Spoiler-Angst oft zu kurz kommen. Zum Beispiel, wie ein Film Spannung aufbaut oder den Zuschauer an der Nase rumführt.
Es ist also nicht tragisch, wenn ich das Ende eines aktuellen Kinofilms auf FB poste?
Bei einem guten Film kann ich alles im Voraus bis ins Detail wissen, er wird immer noch funktionieren. Es ist ein Irrglaube, dass der Zuschauer im Voraus die Handlung nicht kennen darf. Würde man das konsequent zu Ende denken, hiesse das ja nichts anderes, als dass eine Zusammenfassung der Filmhandlung den Kinobesuch ersetzen könnte. Aber der blosse Pot ist oft gar nicht so wichtig. Nehmen wir den letzten «Star Wars», da weiss ja jeder, dass die Guten am Ende gewinnen. Die Action-Szenen sind deswegen aber nicht weniger dramatisch. Spannung wird nicht dadurch erzeugt, dass ich nicht weiss, wie eine Geschichte ausgeht. Spannung entsteht dadurch, dass ich emotional mitgehe.
Dass Ihre Theorie stimmen muss, zeigen Filme wie «Heidi». Da kennt auch jeder die Geschichte in- und auswendig, und trotzdem wurde der Film zum absoluten Blockbuster.
Genau. «Heidi» ist dafür ein gutes Beispiel,
Gute Chancen, ein Publikumsmagnet zu werden, hat auch «Die göttliche Ordnung» von Petra Volpe. Der Film funktioniert wunderbar, obwohl wir alle wissen: Das Frauenstimmrecht in der Schweiz wurde angenommen. Gilt das aber wirklich für jeden Film, dass die Auflösung nicht zentral ist?
Grundsätzlich behaupte ich, dass Twists nicht entscheidend sind. Der Film von Volpe ist hierfür ebenfalls ein gutes Beispiel. Obwohl wir wissen, wie die Abstimmung ausgeht, läuft es uns kalt den Rücken runter, wenn die Szene kommt, in der am Radio verkündet wird: Das Frauenstimmrecht wurde vom (männlichen) Schweizervolk angenommen. Innerlich jubelt man mit: YES, wir haben es geschafft!
Können Sie uns ein Negativ-Beispiel nennen?
Filme wie «The Sixth Sense» von M. Night Shyamalan, die nur auf den einen entscheidenden Twist rauslaufen, finde ich völlig uninteressant. Selbst bei Krimis ist eigentlich nicht entscheidend, wer der Mörder ist, sondern Milieuschilderungen oder die Psychologie hinter dem Täter. Man denke an Hitchcocks «Psycho». Man kann sich den Film immer wieder anschauen, auch wenn man die berühmte Schlussszene längst kennt. Solche Filme will ich sehen.
Sie erwähnten, dass es einst Ihr Traum war, Filmregisseur zu werden. Ist es möglich, dass man von Simon Spiegel doch irgendwann einen Film auf der Leinwand sehen wird?
Möglich ist ja vieles. Aber damit es soweit kommt, müsste ich die Sache wieder ernsthaft verfolgen. Derzeit bin ich aber mit einem Buch zur Utopie im Dokumentar- und Propagandafilm beschäftigt. Die Regiekarriere wird also noch einen Moment warten müssen.
Vielen Dank für das Gespräch und nochmals herzliche Gratulation zum Preis.