EMILIA PÉREZ ist ein atemberaubend modernes Musical, ein intimes Epos über Transidentität und ein Thriller über das mexikanische Drogenmilieu. Der Film reisst mit und verblüfft sowohl durch seine Inszenierung als auch durch das Spiel seiner Darsteller:innen. Wir haben Regisseur Jacques Audiard getroffen, der verrät, dass er eher Leser als Zuschauer ist.
Interview Jacques Audiard | EMILIA PEREZ
- Publiziert am 2. Oktober 2024
«Transidentität und mein filmische Drama greifen formal ineinander. Der Mann wechselt das Geschlecht, der Film wechselt das Genre.»
Interview von Ondine Perier.
Ihr Film EMILIA PÉREZ enthält eine Fülle von aktuellen, intimen und sozio-politischen Themen. Gibt es darunter eines, das Sie mehr berührt hat als die anderen?
Es gibt zwei Themen, die sich für mich auf seltsame Weise überschneiden, die Transidentität und das mexikanische Drama. Beide greifen in gewisser Weise formal ineinander. Der Mann wechselt das Geschlecht und der Film wechselt das Genre. Beide sind miteinander verbunden.
In Ihrem Film gibt es viele technische Meisterleistungen. Was war die grösste Herausforderung diesbezüglich?
Mein Film SISTER BROTHERS war aus vielen Gründen ein sehr schwieriger Film. EMILIA PÉREZ war wesentlich einfacher. Ich hatte fast täglich Freude an der Arbeit. Und sei es nur, weil ich von Natur aus ungeduldig bin und jeden Tag mehrere Akten zu bearbeiten hatte. Es gab Bereiche, mit denen ich mich noch nie befasst hatte. Der Gesang, die Choreografie, das war mir völlig unbekannt. Aber sichder, einige Szenen waren aufwändig. 150 Statisten, Tänzer, Gesang, das ist kompliziert. Aber auch sehr aufregend.
Wie entstand die musikalische Zusammenarbeit mit Camille und seiner Partnerin Clément Duco?
Ich habe Clément ganz am Anfang des Prozesses kennengelernt, als der Film noch ein Treatment, ein Libretto war. Es existierte lediglich ein kleines Opernlibretto von 30 Seiten, das ich nach der Kurzgeschichte von Boris Razon bearbeitete. Da lernte ich Clément kennen und er stellte mir seine Lebensgefährtin Camille vor, die Lust hatte, mitzuarbeiten.
Bezüglich der Besetzung: Hatten Sie beim Schreiben bereits einige Ihrer Schauspieler:innen im Kopf?
Ganz und gar nicht. Bei den Casting-Sitzungen hat sich vieles noch verändert.
*Der gesamte Film wurde in einem Studio gedreht. Warum ?
Ich war für Recherchen viel in Mexiko unterwegs und habe viele Castings dort gemacht. Irgendwann habe ich gemerkt, dass das alles zu realistisch wird, dass die DNA des Films die Oper ist. Ich musste zurück ins Studio und auf die Bühne, die mir eine sehr starke Stilisierung erlaubte, was mir die Realität verunmöglichte.
Sind Sie nicht nur der Regisseur sondern auch der Drehbuchautor bei all Ihren Filmen? Was ist für Sie die grösste Herausforderung?
Der komplizierteste Schritt – was nicht heissen soll, dass es eine Qual ist und mir keine Freude bereitet – ist das Schreiben. Bei EMILIA PÉREZ kamen spezifisch noch die Liedtexte und die Musik dazu. Auch musste ich mir überlegen, welche Momente choreografiert werden und welche nicht. Was mir aufgefallen ist: Bei einem normalen Film machen Sie Dialogszenen, eine Sequenz, die über vier Seiten geht, einen Anfang, eine Mitte, ein Ende, aber wenn Sie ein Lied schreiben, hat nach drei Zeilen jeder die Absicht verstanden. Es geht mit einer anderen Geschwindigkeit, es spricht sofort mehr das Herz und die Seele an als den Verstand. Normalerweise muss man Dialoge bis zum Ende anhören, um etwas zu empfinden. Bei Liedern ist das sofort der Fall.
War es ein Wunsch Ihrerseits, die Figur des Manitas durch Erlösung zu adeln?
Ich stellte mir die Frage, was es bedeutet, ein Narco-Anführer zu sein, der schon lange den Wunsch hat, eine Frau zu werden, der inmitten von Gewalt lebt aber die Gewalt eigentlich verabscheut. Was es bedeutet, sich in den Zügen eines rücksichtslosen Wesens zu zeigen, während man gerade etwas anders sein will. Somit ist die Grundlage der Figur des Manitas eine tragische. Wenn man sich eine Figur wie diese vorstellt, dann nicht erst ab dem Zeitpunkt, an dem er sich für den Übergang entscheidet, sondern er hat bereits Jahrzehnte voller Dramen hinter sich.
Lesern Sie gerade etwas, das Sie für ein nächstes filmisches Werk besonders interessiert?
Zunächst einmal bin ich eher Leser als Zuschauer. Meine Filmideen entstehen darum tatsächlich mehrheitlich über Bücher. Das Lesen führt mich unweigerlich zum Schreiben. Ich muss also meine Maschine mit Literatur füttern. Zurzeit lese ich einen Essay von Pierre Judet de la Combe über Homer. Es ist sehr schön. Die Mythologie ist eine Erzählung, sie ist selber schon fast ein Drehbuch.
Gibt es nach Ihrem Gefängnisfilm, Ihrem Western und dem Krimi-Musical EMILIA PÉREZ noch ein weiteres Genre, das Sie in Zukunft erforschen möchten?
(lacht) Es ist lustig, dass Sie das sagen. Hauchen Sie mich an, was wäre das? Ein Horrorfilm? Das wäre zwar interessant, aber ich habe noch nicht die Form dafür.
Vielen Dank für dieses Gespräch*