Der französisch-marokkanische Regisseur Nabil Ayouch präsentiert mit EVERYBODY LOVES TOUDA, das Porträt einer starken Frau, einer Sängerin, die mit ihren Liedern die Sitten ihres Landes zum Teufel schickt. Nach LES CHEVAUX DE DIEU (2012), MUCH LOVED (2015) und HAUT ET FORT (2021) wurde Nabil Ayouch dieses Jahr in die Auswahl «Cannes Première» aufgenommen. Er präsentiert einmal mehr einen alternativen Blick auf Marokko, weit entfernt von vorgefassten Meinungen.
Nabil Ayouch | EVERYBODY LOVES TOUDA
«Ich wollte das gesamte Spektrum meiner Protagonistin Touda zum Ausdruck bringen, einschliesslich ihrer sexuellen Freiheit.»
EVERYBODY LOVES TOUDA | SYNOPSIS
Touda träumt davon, eine Scheicha zu werden, eine traditionelle marokkanische Künstlerin, die ohne Scham und Zensur Texte über Widerstand, Liebe und Emanzipation singt, die seit Generationen überliefert sind. Touda tritt jeden Abend in den Bars ihrer kleinen Provinzstadt unter den Augen der Männer auf und hegt sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und ihren Sohn. Als sie misshandelt und gedemütigt wird, beschliesst sie, alles hinter sich zu lassen und nach Casablanca zu ziehen …
NABIL AYOUCH | BIOGRAFIE
Der französisch-marokkanischer Regisseur Nabil Ayouch wurde 1969 in Paris geboren. Ayouchs Mutter ist Französin tunesisch-jüdischer Herkunft, sein Vater muslimischer Marokkaner. Sein Bruder ist der Regisseur Hicham Ayouch. Nach diversen Theater- und Regiekursen arbeitete Ayouch als Regieassistent, realisierte Werbespots und drehte schliesslich die ersten preisgekrönten Kurzfilme, darunter LES PIERRES BLEUES DU DÉSERT mit Jamel Debbouze. 1997 führt er Regie in seinem ersten Langspielfilm MEKTOUB, der zum Kassenschlager in Marokko avancierte und das Land bei der Oscar-Verleihung 1998 vertreten sollte. Sein zweiter Spielfilm aus dem Jahr 2000 – ALI ZAOUA, PRINZ DER STRASSE – wurde ebenfalls mehrfach prämiert und als Vertreter Marokkos für die Oscar-Verleihung ausgewählt. Im Jahr 2012 lief sein Film LES CHEVAUX DE DIEU (Die Pferde Gottes) bei den Filmfestspielen in Cannes in der Reihe Un Certain Regard und wurde dort ausgezeichnet. 2017 wurde er in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) aufgenommen, die jährlich die Oscars vergibt. 2021 wurde Ayouch für seinen Musicalfilm HAUT ET FORT erstmals an den Wettbewerb um die Goldene Palme des Filmfestivals von Cannes eingeladen. EVERYBODY LOVES TOUDA ist ein weiterer Meilenstein in Ayouchs Filmkarriere.
Mit Nabil Ayouch sprachen am Filmfestival Cannes 2024 Mathieu Vuillerme & Abel Zuchuat
Nabil Ayouch, Sie kehren dieses Jahr nach MUCH LOVED und HAUT ET FORT mit einem neuen Film nach Cannes zurück, der von der Stellung der Frau und vor allem von deren Emanzipation handelt. Können Sie uns mehr zu diesem Thema erzählen, das Sie persönlich zu berühren scheint und Ihre Produktionen durchzieht?
Ich weiss nicht, ob das so stimmt. Denn meine Filme behandeln recht unterschiedliche Themen. Nehmen wir den Film HAUT ET FORT, der vor einigen Jahren am Festival gezeigt wurde, oder RAZZIA, der mehr die Freiheiten, auch die individuellen, behandelt, wird das deutlich. Aber was auf jeden Fall feststeht, ist, dass starke Frauenfiguren aus verschiedenen Gründen seit geraumer Zeit in meinen Filmen herumspuken. Und das auch in Nebenrollen wie in RAZZIA oder in den LES CHEVAUX DE DIEU.
Ihr Film handelt von Touda, einer Scheicha, also eine traditionelle marokkanische Sängerin.
Immer wieder habe ich mir gesagt, dass ich Lust hätte, diesen Frauen, die ich bewundere, einen Film zu widmen. Ich bewundere ihre Macht und das, was sie durch ihr Verhalten in der Gesellschaft erzeugen – wie sie diese damit provozieren. Am Ende war es die Begegnung mit der Schauspielerin Nisrin Erradi, die mich schliesslich davon überzeugt hat, dass es an der Zeit ist, einen Film mit dieser Botschaft zu realisieren. Und dass genau sie die Rolle der Touda spielen muss.
Genau, sprechen wir darüber. Touda singt Aïta, ein Gesang, der traditionell Männern vorbehalten ist. Was Touda performt, ist unzensiert und ohne Tabus. Wie sind Sie auf diese Geschichte gekommen?
Ich bin sehr empfindlich, was Ungerechtigkeit angeht. Ich finde, dass das Schicksal, das diesen Frauen seit einigen Jahrzehnten widerfährt, die Art und Weise, wie sie in der Gesellschaft angesehen werden, wie man sie wahrnimmt, eine tiefe Ungerechtigkeit darstellt. Denkt man daran, was sie wirklich verkörpern, an ihre Erfahrungen und ihren Werdegang, an der Rolle, die sie beim Aufbau des Landes gespielt haben, seit sie im 19. Jahrhundert zu singen begannen. Sie waren Heldinnen und Kämpferinnen. Sie waren bei allen Kämpfen dabei, gegen alle lokalen Potentaten. Auch zur Zeit des französischen Protektorats vermittelten sie eine politische Botschaft. Und weil sie in die Städte gingen, weil sie begannen, an Orten zu singen, an denen Geld und Alkohol zirkulierten, wurden sie nach und nach eher als Prostituierte statt als Künstlerinnen wahrgenommen. Cheikha, schon das Wort selbst, ist für viele zu einer Beleidigung geworden. Ich wollte mit diesem Film daran erinnern, wer diese Frauen waren, und ihnen wieder einen Status, eine Form der Anerkennung verleihen. Ich wollte auch einem Publikum, das diese Frauen und die Botschaft in ihren Liedern nicht unbedingt kennt, die Möglichkeit geben, die Texte zu hören und zu verstehen.
*In Ihrem Film gibt es auch eine recht direkte Sexszene, was in dieser Art von Produktionen nicht üblich ist. Ist das für Sie auch eine Möglichkeit, aus filmischen Schubladen auszubrechen?
Nein, ich wollte Touda als eine freie Figur aufbauen, die auf der Suche nach Freiheit und Befreiung ist – auch in ihrer sexuellen Freiheit, in ihrer Beziehung zu Männern. Aber es ist so: Sie war verheiratet, man hört es an einer Stelle im Film. Die Ehe hat jedoch nicht funktioniert und sie hat Wünsche. Sie entscheidet, mit wem und wann. Und das sieht man auch in der Beziehung zu ihrem Geliebten, der sehr an ihr hängt, während sie sich weniger zu ihm hingezogen fühlt. Ihr eigentlicher emotionaler Anknüpfungspunkt ist ihr Sohn. Auf jeden Fall wollte ich das gesamte Spektrum meiner Protagonistin Touda zum Ausdruck bringen, einschliesslich ihrer sexuellen Freiheit.
Ihr Sohn ist übrigens taubstumm, was paradox ist, da er seine Mutter nicht singen hören kann. Warum diese Entscheidung?
Er kann ihren Gesang nicht hören, ja, aber er kann die Musik spüren. Er ist zwar schwerhörig, steht aber seiner Mutter sehr nahe. Ihre Beziehung läuft über Blicke, über Schwingungen. Er hegt eine tiefe Bewunderung für seine Mutter und sieht sie als eine wahre Heldin. Und ich denke – zumindest wollte ich die Figur so aufbauen –, dass er, wenn sie singt oder vor ihm tanzt, alles, was sie ihm vermittelt, vollständig aufnimmt.