Für arttv Filmjournalist Rolf Breiner war es offensichtlich: Dieses Jahr gaben die Regisseurinnen, Schauspielerinnen und Produzentinnen den Ton an und dominierten die 19. Ausgabe des Zurich Film Festival. Nicht nur wurden mit Jessica Chastain (Golden Icon Award) und Diane Kruger (Golden Eye Award) zwei erfolgreiche Frauen geehrt, sondern auch überdurchschnittlich viele gute Filme basierten auf Frauen-Power. Molly Manning Walkers HOW TO HAVE SEX ist für Breiner allerdings ein Negativbeispiel.
Das Zurich Film Festival 2023 und die Frauen
Frauen kommen in der Filmbranche zu kurz und sind unterrepräsentiert: Das ZFF 2023 zeigte ein erfrischend anderes Bild.
Von der Wüste bis Davos
Von Rolf Breiner
Aussergewöhnlich ist es an sich nicht, dass Frauen in Zürich zur Show auflaufen und ausgezeichnet werden, aber auch heute noch alles andere als selbstverständlich. In diesem Jahr haben gleich zwei Schauspielerinnen die Aufmerksamkeit der Medienleute und Fotograf:innen auf sich gezogen: Oscar-Preisträgerin Jessica Chastain (Golden Icon Award) und Diane Kruger (Golden Eye Award) wurden geehrt. Beide hatten Filme im Gepäck, natürlich mit starken Frauen in den Hauptrollen. Jessica Chastain spielt im Sozialdrama MEMORY (Regie: Michel Franco) eine Sozialarbeiterin in New York, die auf ihre Vergangenheit zurückgeworfen wird. Die deutschstämmige Schauspielerin Diane Kruger brilliert in Yann Gozlans Psychothriller VISIONS als Pilotin, die mit einer Liebschaft konfrontiert wird. Glamour und Leidenschaft an der Côte d’Azur.
Kilian Riedhofs eindringliches Drama SELLA. EIN LEBEN ist ein Stück Zeitgeschichte und eine Tragödie zugleich. Stella lebt in Berlin und träumt von einer Karriere als Jazzsängerin, doch als Jüdin schwebt sie in Lebensgefahr. Unter massivem Druck und Gewalt sieht sie sich 1943
gezwungen, ihre Landsleute an die Gestapo zu verraten, um die eigene Haut zu retten. Stella Goldschlag ist Opfer und Täterin zugleich. Paula Beer verkörpert diese tragisch-schuldige Person, sympathisch und teuflisch, mit Hingabe und Eindringlichkeit. Stella Ingrid Goldschlag (1922-1994) hat
tatsächlich gelebt und ging als «Greiferin» in die verbrecherische Geschichte der Nazis ein.
Engagiert auf ganz andere Art zeigen sich die beiden Hauptfiguren in Léa Todorovs Sozialdrama LA NOUVELLE FEMME. Lili d’Alengy (Leïla Bekhti) und Maria Montessori (Jasmin Trinca) sind beide Mütter und haben ein Geheimnis. Die Pariser Lebedame Lili will ihre behinderte Tochter Tina vor der Öffentlichkeit verstecken, Maria kämpft um ihr uneheliches Kind. Sie begegnen sich in einer römischen Schule, die sich um Kinder mit Beeinträchtigungen kümmert. Gemeinsam setzen sie sich in einer konservativen Männerwelt um 1900 durch, die solche Menschen als «defizitär» betrachtet. Autorin und Regisseurin Léa Todorov setzt mit ihrem Sozialdrama ein starkes Zeichen für eine moderne pädagogische Methode und für Menschlichkeit.
Sue (Nadine Labaki) lebt über 20 Jahre in der Schweiz und kehrt nach Ägypten zurück, um ihre exzentrische Mutter (Fanny Ardant) nochmals zu treffen. Die Fahrt von Kairo durch die Wüste nach Alexandria wird für Sue, traumatisiert vom Elternhaus, zur Konfrontation mit ihrer Vergangenheit. Wiederholt erscheint ihr ihre todkranke Mutter, die sie zwingen will, sich zu stellen. Der schweizerisch-ägyptische Regisseur Tamer Ruggli konzentriert sich in seinem Spielfilmdebüt RETOUR EN ALEXANDRIE auf eine angespannte Mutter-Tochter-Bezeihung – nicht immer schlüssig, aber bitter-charmant und nostalgisch.
In die Wüste reiste auch die Dichterin und Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, als sie Abstand zu ihrem Ex suchte, dem Schweizer Max Frisch. Regisseurin Margarethe von Trotta hat diese toxische Beziehung ins Zentrum ihres Spielfilms INGEBORG BACHMANN. REISE IN DIE WÜSTE gerückt. Ronald Zehrfeld verkörpert das Schweizer Literaturdenkmal Max Frisch. Der Dramatiker und Schriftsteller wird hier egozentrisch, eifersüchtig und reichlich unsympathisch gezeichnet. Vicky Krieps agiert als eine Frau, die sich von Frisch bedrängt und vereinnahmt fühlt. Ihre Trennung kommt einer Befreiung gleich und hinterlässt doch tiefe Narben. Eine fesselnde Begegnung im Kino über eine verhängnisvolle Beziehung.
Eileen (Thomasin McKenzie) ist eine graue Maus, sie arbeitet in einer Jugendstrafvollzugsanstalt in Neuengland und begegnet der mondänen Psychologin Rebecca (Anne Hathaway). Die zieht sie in ihren Bann. Eileen fühlt sich anerkannt, geliebt, doch kippt der vermeintliche Liebesfilm ins Abgründige. William Oldroyd entwickelt mit EILEEN einen perfiden Psychothriller – mit einer verführerischen Blondine alias Anne Hathaway, an der auch Alfred Hitchcock seine Freude gehabt hätte.
In Georgien entstand die Schweizer Produktion BLACKBIRD BLACKBIRD BLACKBERRY von Elene Naveriani. They beschreibt das Leben der 48-jährigen Ladenbesitzerin Etero (Eka Chavleishvili). Die selbstständige Single-Frau liebt ihre Freiheit und ist noch Jungfrau, als sie sich in den verheirateten Murman verliebt. Etero lehnt sich gegen provinzielle Konventionen auf. Wird sie ihre Erfüllung finden? Elene Naveriani zeichnet in dem spröden Liebesfilm eine aussergewöhnliche Frau – ohne Glamour, Glanz und üblichen Sex. Schauspielerin Eka Chavleishvili bringt ihre ganze physische Wucht, herbes Frausein und Sensibilität ein.
Alles andere als sensibel ist das Roadmovie mit Ira, Malin und Ka, zu denen die Backpackerin Zoe stösst. Regisseurin Anna Roller lässt junge Frauen von der Leine, die nach dem Abitur in Italien Fun und Freiheit suchen, aber nach einer Autopanne in einem verlassenen Bergdorf landen. Die Münchnerin Roller versucht in ihrem Spielfilmdebüt DEAD GIRLS DANCING so etwas wie Sinnsuche losgelöster Teenager zu beschreiben, die kriminelle Energie entwickeln und feststecken. Das Ergebnis bleibt unbefriedigend.
Michal Steiners wilder Trip von der Zürcher Langstrasse ins Welsche Land weckt Erwartungen, die nur bedingt erfüllt werden. Caro (Silvana Synovia) und Annika (Nilam Farooq) kommen zufällig an Drogen und Drogengeld, fliehen und werden vom Dealer und einem schmutzigen Fahnder (Anatole Taubman) gejagt. Die erste Schweizer Netflix-Produktion EARLY BIRDS versteht sich als Neo-Noir-Thriller und scheitert. Action um der Action willen mit viel Blut, Gewalt: Kaputte Typen in einer kaputten Welt eben.
Gespannt sein darf man indes auf die deutsch-schweizerische TV-Koproduktion DAVOS 1917. Am ZFF wurden die beiden ersten Episoden von sechs aufgeführt. Der Nobelort Davos dient als Schauplatz der Spionageserie, die in der Weihnachtszeit ausgestrahlt werden soll. Die ambitionierte Krankenschwester Johanna (die Luzernerin Dominique Devenport) gerät ins Netz der internationalen Geheimdienste, auch auf Betreiben der Deutschen Ilse von Hausner (Jeanette Hain). Regie des grossen Serienpakets führen der Schweizer Jan-Eric Mack, Anca Miruna Lăzărescu und Christian Theede.