In seiner bisher umfassendsten Einzelausstellung bespielt der Westschweizer Künstler das gesamte Erdgeschoss des Aargauer Kunsthauses mit seinen unverkennbaren, und doch universell verständlichen Fabelwesen und Traumarchitekturen. In seinen Arbeiten entstehen fantastische Welten, die Alltagskonventionen mit düsterer Leichtigkeit auflösen. arttv gibt einen Einblick in die Welt des vielschichtigen Künstlers und seine, wie er sagt, «archaische Kunst».
Das Aargauer Kunsthaus zeigt mit «Vitamin» eine Ausstellung voller Gegensätze
Augustin Rebetez' Arbeiten sind knallig bunt, schrill, aber düster und im nächsten Moment hell, leise und gleichsam poetisch.
Augustin Rebetez (*1986 in Delémont) lebt und arbeitet in Mervelier (JU). 2009 schloss er sein Studium der Fotografie am CEPV – Centre d’enseignement professionnel de Vevey ab. Auch wenn er im Jura verwurzelt ist, bereichert das Enfant terrible der Schweizer Kunstszene seine Praxis schon früh durch Aufenthalte und Reisen ins Ausland. Der Künstler arbeitet stets mit den unterschiedlichsten Medien, um raumgreifende Installationen zu realisieren, und war damit bereits in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen vertreten. Seit 2020 publiziert er im Eigenverlag Label Rapace Bücher und führt sein eigenes Künstlerhaus zwischen Museum und Atelier, in dem er seine Werke, die Fotografie, Film, Musik, Malerei, Plastik und Performance vereinen, kontinuierlich weiterentwickelt und der Öffentlichkeit als Gesamtkunstwerk zugänglich macht. Zu den vielen Preisen, die der Jurassier gewonnen hat, zählen unter anderem der Kiefer Hablitzel Preis (2012), der Grand Prix Images Vevey (2013), der Swiss Art Award (2019) und der Alfred Latour Preis (2019). Die Ausstellung im Aargauer Kunsthaus ist seine bisher umfassendste Einzelausstellung.
Ein unbequemer Auftakt
Als Augustin Rebetez 2011 seine erste Einzelpräsentation im Rahmen der Caravan-Reihe für junge Kunst im Aargauer Kunsthaus durchführt, ist er erst 25 Jahre alt und hat gerade die Fotoklasse abgeschlossen. In seiner raumgreifenden Wandinstallation zeigt sich bereits damals, dass ihm der Bildraum nicht genügt. «HEY, YOU, COME CHECK MY STUFF! PLEASE, LOOK AT ME! COME ON! SEE ME NOW!»– beinahe aufdringlich fordert Rebetez’ neuste Videoarbeit die Aufmerksamkeit der Besuchenden im Aargauer Kunsthaus ein. Das Werk Vitamin (2023) ist schrill, bunt und hinterlässt uns aufgedreht und voller Neugier, mehr über diesen pulsierenden Kosmos zu erfahren. Vitamin verdeutlicht aber gleich zu Beginn der gleichnamigen Ausstellung: Es kann laut und unbequem werden. Augustin Rebetez ist das recht. Er hat keine Angst davor, sein Publikum herauszufordern, und bekämpft gerne Feuer mit Feuer. So wird es im grauen Winter plötzlich wohlig warm–Rebetez’ Werke spenden Energie und lassen seine Freude aufblitzen, die Überforderungen und Widersprüche des modernen Lebens zu einem Sinnesgewitter
aufzubauen.
Rebetez’ Spiel mit dem Rituellen
Nach der ersten Dosis Vitamin laden Lichtboxen, Monografien und Miniaturen zur Erkundung von Rebetez’ Wunderland in Aarau ein. An transparenten Fäden herunterhängend, tanzen seine glänzenden Vogelschwärme um die Köpfe der Besuchenden. Sie führen über Klebefolien auf Boden und Wänden zu neuen Fotografien und Malereien. Eines der grossen Highlights dieser Einzelausstellung wird die erstmals in der Schweiz inszenierte Arbeit «Throw Your Shadows» (2018) sein: In diesem Environment aus Projektion, Lasershow und Stroboskoplichtern zieht Rebetez die Betrachtenden in einen Erzählstrom, der den Körper mit den Mitteln der Kunst – ähnlich wie in religiösen Riten von Völkern aus früheren Zivilisationen – in eine ekstatische Trance versetzt. In einer Zeit, in der sich immer mehr Leute ihre eigenen spirituellen Pfade im Yoga, Schamanismus oder gar Sport suchen, wird das Museum nicht nur für «Throw Your Shadows» zu einem eigenwilligen Raum geistiger Einkehr: Eine im Kunsthaus errichtete Kapelle lädt die Besuchenden zusätzlich dazu ein, Kunst als gemeinschaftsstiftenden Ort zu erfahren.
Poetische Szenografien
Um Gemeinschaft geht es auch in der vom Aargauischen Kunstverein geförderten Neuproduktion von Bronzeskulpturen, hergestellt in der Kunstgiesserei Rüetschi AG in Aarau. «THE FAMILY» (2023) besteht aus fünf überlebensgrossen Vögeln, die im Innenhof des Aargauer Kunsthauses platziert werden. Sie erinnern daran, dass wir letztlich alle zu einer Familie, der Menschheit, gehören, auch wenn wir von überall herkommen und in unterschiedliche Richtungen unterwegs sind. Vögel sind in Rebetez’ Werk immer wieder anzutreffen und versinnbildlichen für den Künstler Freiheit und das Streben nach Höherem. Rebetez ist Sammler und Dichter zugleich. Er eignet sich einfach verständliche Zeichen an, die interkulturell lesbar sind, und kondensiert sie in seinen Arbeiten zu Ensembles und Szenografien. Damit gelingt ihm nicht nur ein poetisches Spiel zwischen high und low art, vielmehr bieten die ungewohnt rohen Inszenierungen eine Bühne für die grotesken Schauspiele des Alltags: Despoten zeigen ihr wahres, von Machtgier verzerrtes Gesicht, Katzen erscheinen als die kleinen Monster, die sie manchmal sein können, und ein verlegtes Handy wird zum Anlass für einen Punkhit. Augustin Rebetez lässt uns an seiner Kunst teilhaben. Sie ist verquer und unangepasst, und sie ist genau das, was wir jetzt alle brauchen. Woher wir das wissen? Das hat uns eines von Rebetez’ Vögelchen gezwitschert.
(Text: Aargauer Kunsthaus)