LA CACHE von Lionel Baier spielt im Mai 1968 in Paris, dem Schauplatz von Demonstrationen und Strassenunruhen. Die Geschichte wird aus der Sicht eines neunjährigen Jungen erzählt, der sich zu dieser Zeit bei seinen Grosseltern aufhält. Ihre Wohnung ist durch und durch chaotisch, die Onkel des Jungen leben noch dort. William Lebghil spielt den «Grand Oncle», einen leidenschaftlichen Linguisten in den Dreissigern. arttv.ch hat den Schauspieler in Lausanne getroffen.
William Leghil | LA CACHE
- Publiziert am 2. April 2025
«Es ist ein Film von seltener Dichte, der Tiefe und Leichtigkeit meisterhaft miteinander verbindet.»
Interview von Ondine Perier
Wie sind Sie an die Figur des Grand Oncle in LA CACHE herangegangen und welche Bedeutung hat sie in der Geschichte?
Der Grand Oncle ist eine Figur, die von realen Figuren aus dem Roman LA CACHE von Christophe Boltanski inspiriert wurde. Der Film adaptiert einen kleinen Teil des Buches, insbesondere die Episode in Metz im Jahr 1968, die an ein einschneidendes Ereignis anknüpft: 1942 versteckte sich der Vater, der von Michel Blanc gespielt wird, zwei Jahre lang unter dem Boden des Badezimmers. Dieses Versteck wird zu einem Symbol für die Last der Vergangenheit und das Familientrauma, das über die Generationen hinweg fortbesteht
Wie gibt der Film das Familientrauma im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg wieder und was hat Sie daran gereizt?
Die Familie im Film, die vom Krieg und der Besatzungszeit geprägt ist, lebt auf atypische Weise: vier Generationen unter einem Dach, Angst vor der Aussenwelt und eine fast zwanghafte Verschmelzung. Im Roman als «Tausendfüssler» bezeichnet, bewegen sie sich wie ein einziger Körper. Was mich begeistert hat, war der Ton des Films: Trotz des Traumas wird die Geschichte mit Humor, Leichtigkeit und Eleganz erzählt und zeigt, wie manche Menschen den Schmerz in eine fröhliche, sprühende Energie verwandeln.
Wie beeinflusst der Mai 1968 Ihre Figur?
Die Familie bewegt sich in einem brodelnden intellektuellen Umfeld, umgeben von Büchern und gelehrigen Diskussionen. Mit einem Bruder, der Soziologe ist, einem Künstler und einer Mutter, die sich im Journalismus engagiert, sind sie tief von Kultur und Sprache durchdrungen. Doch trotz dieser Offenheit bleiben sie in sich gekehrt, beherrscht von einer viszeralen Angst vor der Aussenwelt, die nicht mit dem revolutionären Schwung des Mai 1968 übereinstimmt.
Inwiefern ist Lionel Baiers Schauspielführung einzigartig?
Lionel Baier verfolgt einen präzisen und zugleich wohlwollenden Ansatz. Immer am Set, aber nie hinter einem Monitor, beobachtet er unauffällig und macht sich Notizen, bevor er gezielte Hinweise gibt. Seine sanfte, elegante und selbstbewusste Art der Regieführung schafft einen beruhigenden Arbeitsrahmen, in dem sich jeder frei fühlt, zu erkunden, während er mit seiner strengen und kontrollierten Vision des Films in Einklang bleibt.
Hatten Sie den Roman vor den Dreharbeiten gelesen?
Ich konzentrierte mich auf das Drehbuch, suchte aber nach Material über Jean-Elie Boltanski, den Mann, der meine Figur inspiriert hat. Er lebte sein ganzes Leben lang in dieser Wohnung und blieb dort bis zu seinem Tod im Januar. Seine Verbundenheit mit dem Ort nährte mein Verständnis für die Rolle und verlieh meiner Darstellung eine zusätzliche Tiefe.
Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit Michel Blanc erlebt?
Michel Blanc war ein aussergewöhnlicher Schauspieler, präzise und leidenschaftlich, vor allem in Bezug auf die klassische Musik. Dies war unser vierter gemeinsamer Film, und ich sehe ihn als Mentor. Sein einzigartiges Talent verlieh den Filmen eine echte Identität. Seine Abwesenheit bei der Promotion des Films, infolge seines plötzlichen Todes, ist eine seltsame Lücke, so sehr hat er dieses Projekt geprägt.
*Welche Szene des Films hat Sie während der Dreharbeiten besonders beeindruckt, sei es wegen der schauspielerischen Herausforderungen, sei es wegen ihrer Intensität?
*
Die Szene, die mich am meisten beeindruckt hat, war eine Beerdigungszeremonie gegen Ende des Films. Das war ein sehr starker Moment, sowohl erschütternd als auch beeindruckend zu spielen. Es gab auch leichtere Sequenzen wie die Choreografie, die Spass machte zu drehen, aber auch diese Szene hat mich tief beeindruckt.
*Wie würden Sie LA CACHE in wenigen Worten beschreiben?
*
Es ist ein Film von seltener Dichte, der Tiefe und Leichtigkeit meisterhaft miteinander verbindet. Er fesselt durch seine emotionale Intensität und bewahrt gleichzeitig einen Hauch von Phantasie. Ich sehe ihn wie ein schwarzes Loch, das als Baiser oder Tutu verkleidet ist: eine faszinierende Mischung aus Schwere und Zartheit, die die Zuschauer:innen in sich aufnimmt und diese gleichzeitig mit ihrer scheinbaren Sanftheit überrascht.
Wie war Ihr Werdegang, bevor Sie zum Film kamen?
Ich komme vom Theater. Da habe ich viel gelehrt hat. Ich entdeckte die Bühne, als ich nach dem Abitur eine Schauspielschule besuchte, die École Périmony, die für mich eine Offenbarung war.
Wie Michel Blanc wurde ich von populären Rollen geprägt, etwa der des Slimane in SODA. Aber sehr schnell hatte ich Lust, andere Facetten des Schauspiels zu erkunden.
*Gibt es einen Regisseur, eine Regisseurin, mit dem oder der Sie gerne arbeiten würden?
*
Es gibt viele! In Frankreich inspirieren mich Justine Triet, Albert Serra, Arthur Harari oder Quentin Dupieux sehr. Auf internationaler Ebene sind Paul Thomas Anderson oder Park Chan-wook Filmemachende, deren Welt mich fasziniert.
Vielen Dank für das Gespräch