Er kam dem Weltpolitiker Michail Gorbatschow näher als so manch anderer, denn sie kannten sich seit Jahren. Der russische Regisseur, der durch seine filmische Arbeit zu einem von Putins «Staatsfeinden» wurde, setzt sein Lebenswerk zielstrebig fort: In seinem Dokumentarfilm von 2021 warf er ein Schlaglicht auf den Menschen, dessen politische Visionen nicht nur Russland für immer veränderten. Sein Film stellte die Frage, was davon im Jahre 2021 noch übrig war. Ein Interview von Geri Krebs.
Vitaly Mansky | Gorbachev. Heaven
«Gorbatschow ist ein Gefangener von Putin», sagte Regisseur Vitaly Mansky über den Hauptprotagonisten seines Films von 2021.
Vitaly Mansky wurde 1963 in Lemberg in der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik geboren und studierte später in Moskau am staatlichen Institut für Kino, wo er 1989 seine Ausbildung abschloss. Er drehte seither über 30 Filme und ist einer der international bekanntesten Dokumentarfilmregisseure Russlands und ein alter Bekannter am Festival Visions du Réel. Seit 2000 war er mehrfach mit seinen Filmen in Nyon vertreten. Sein vorletzter, «Putin’s Witnesses» wurde von Gabriela Bussmann produziert, der früheren Co-Leiterin von Visions du Réel.
Ihr Film «Gorbachev. Heaven» ist von einem starken Vertrauensverhältnis zu Ihrem Protagonisten geprägt. Wie lange kennen Sie Michail Gorbatschow?
Vitaly Mansky: Seit 1999. Damals hatte ich eine leitende Position beim russischen Staatsfernsehen inne und ich realisierte die Trilogie: «Red Tsars. Presidents of Russia». Der erste Teil war «Gorbachev. After the Empire», in den beiden anderen Teilen porträtierte ich Boris Yeltsin und Wladimir Putin. Letzterer war damals gerade neu an die Macht gekommen – und wie so viele andere setzte ich grosse Hoffnungen in ihn. Dass ich zu jener Zeit aber auch einen Dokumentarfilm über Gorbatschow drehte, war jedoch ein Tabubruch.
Wieso ist ein Film über einen früheren Staatschef ein Tabubruch?
Mehr noch als heute war Michail Gorbatschow in der russischen Öffentlichkeit eine Unperson, im Staatsfernsehen stand er auf einer Schwarzen Liste, er galt als «Zerstörer der Sowjetunion». Seit jenem ersten Film habe ich Gorbatschow immer wieder getroffen, mich über all die Jahre häufig mit ihm ausgetauscht. «Gorbachev. Heaven» ist nun aber keineswegs Teil zwei von «Gorbachev. After the Empire», sondern etwas ganz anderes. Doch ohne diesen Film wäre der neue so wohl nicht möglich gewesen. Michail Gorbatschow hätte mich wohl kaum so nahe an sich herankommen lassen.
Sie begleiten in «Gorbachev. Heaven» einen sehr alten, gesundheitlich stark angeschlagenen Mann, der aber gleichzeitig luzid und weitblickend ist. Er hat nach wie vor das Selbstbewusstsein, dass er, wie es jemand im Film formuliert, «das Antlitz dieses Planeten in einem Mass verändert hat, wie sonst niemand».
Ich kann meinen Film auf eine Kurzformel bringen: Michail Gorbatschow lebt noch, aber die Ideen und Ideale, für die er gelebt hat, sind tot.
Sie selber leben heute in Riga, Sie mussten 2014 Russland verlassen. Wie kam das?
Ich hatte 2014 die Annexion der Krim und die Entfesselung des Krieges in der Ostukraine öffentlich kritisiert. Damit überschritt ich endgültig eine rote Linie und ich erfuhr, dass ich auf einer schwarzen Liste von «Staatsfeinden» gelandet war – was auch immer das heisst. Aber etwas wusste ich: Jetzt war es Zeit zu gehen. Bereits zuvor hatte ich mich wiederholt unbeliebt gemacht, so etwa mit dem Dokumentarfilm «Under the Sun», den ich 2013/14 in Nordkorea gedreht hatte. (Anm.: Der Film lief 2016 auch am Visions du Réel). Diesen Film realisierte ich noch als Angestellter und im Auftrag des russischen Staatsfernsehens. Es hätte ein Propagandastreifen (anderes ist in Nordkorea gar nicht möglich) über das Leben in dem abgeschotteten Land werden sollen. Vordergründig erfüllte ich die Vorgaben, doch in kurzen Momenten, wenn meine Aufpasser wegschauten, filmte ich Dinge aus dem Leben der Leute in Nordkorea, die eine ganz andere Realität zeigten als die der Propagandabilder. Es gelang mir, diese Aufnahmen heimlich ausser Landes zu schaffen und Nordkorea unbeschadet zu verlassen. Als der Film in Russland herauskam, verursachte er einigen Wirbel, denn die Regimes von Russland und Nordkorea sind seit je enge Freunde.
Zwischenzeitlich veröffentlichten Sie auch noch den Dokumentarfilm «Putin’s Witnesses». Darin haben Sie das Material, das Sie vor über zwanzig Jahren im Rahmen von «Red Tsars. Presidents of Russia» über Putin drehten, einer heutigen Betrachtung unterzogen – etwas, das bei Putin gar nicht gut ankam. Dennoch weilten Sie für die Dreharbeiten von «Gorbachev. Heaven» zwischen Ende 2018 und Anfang 2020 erneut mehrmals in Russland. Wie war das möglich?
Das ist vor allem wegen meines Festivals Art Doc Fest möglich, das ich 2006 gründete und seit damals auch leite. Das Festival, das sich dem unabhängigen russischen Filmschaffen widmet, ist international nicht ganz unbekannt, eine Tatsache, die mir vielleicht einen gewissen Schutz bietet. Aber natürlich gehe ich ein Risiko ein, wenn ich nach Russland reise. Man weiss nie, ob ich nicht der nächste «Fall Nawalny» sein werde. Denn gerade vor wenigen Wochen hat mein Festival das Etikett: ‹Extremistische Organisation› erhalten. ‹Extremistisch› ist mittlerweile alles, was Putin nicht in den Kram passt. Er hat das Land längst in dem Sinn umgebaut: Putin ist Russland und Russland ist Putin.
Kehren wir zurück zu Michail Gorbatschow. Wie haben Sie es geschafft, ihm so nahe zu kommen und ihm auch so kritische Fragen zu stellen – gerade was seine Haltung zu Putin betrifft?
Nun, wie ich ja bereits erwähnte, kennen wir uns schon lange. Zudem habe ich vom Umstand profitiert, dass er es sehr liebt, sich mit jungen Leuten zu umgeben und mit ihnen Diskussionen zu führen darüber, wie sie die Welt sehen und wie er sie sieht. Und glücklicherweise bin ich ja auch noch jung (lacht). Und wenn Sie seine Haltung zu Putin erwähnen und seine Weigerung, klar Stellung zu beziehen: Letztendlich ist Gorbatschow ein Gefangener von Putin, da bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als vorsichtig zu sein. Das ist etwas, was ich – unter anderem – auch mit diesem Film zeigen wollte.
Vor zwei Jahren hat Werner Herzog ebenfalls einen Film über und mit Gorbatschow realisiert und in Nyon gezeigt. Kennen Sie den Film?
Natürlich, Werner Herzog und ich sind Kollegen. Wir sind seit vielen Jahren gut miteinander bekannt. Was seinen Gorbatschow-Film betrifft, muss man natürlich sehen, dass er nicht den privilegierten Zugang zu ihm hatte wie ich, er konnte nur während weniger Tage mit ihm drehen – und dann war da auch noch die sprachliche Barriere. Aber ich finde den Film gelungen und ich habe Werner Herzog sogar so weit unterstützt, dass er einen Ausschnitt des langen Gedichts, das Gorbatschow in meinem Film am Ende rezitiert (eine Sequenz, die ich schon früh gedreht hatte), für seinen Film verwenden durfte.
Interview: Geri Krebs, arttv.ch