Die Schweizer Regisseurin Nicole Vögele (CLOSING TIME, NEBEL) hat mehrere Jahre lang in Ravnice in Bosnien recherchiert und darüber berichtet. Sie war die erste Journalistin, die die illegalen Pushbacks der kroatischen Polizei filmte. Jetzt kehrt sie als Cineastin zurück. Sie beobachtet, geht in die Tiefe, stellt keine direkten Fragen, gibt den Jahreszeiten, dem Wetter und dem Wald ebenso viel Raum wie den Menschen.
THE LANDSCAPE AND THE FURY
- Publiziert am 14. April 2025
Ein eindringlicher Film über eine Region, gezeichnet von den Narben der Kriege der 1990er-Jahre.
WEITERE STIMMEN
«Dieser Dokumentarfilm steht für alles, was ein Kinoerlebnis einzigartig und nachhaltig macht.» – Michael Sennhauser | «Vögele setzt darauf, dass der Zuschauer Fragen stellen, tiefgründig nachdenken und aus den grösseren Wahrheiten lernen kann, die sich in Bruchstücken von Gesprächen, verzweifelten Schreien aus der Dunkelheit und zufälligen Akten der Nächstenliebe offenbaren.» – Screen Daily | «Der Film fängt Eindrücke und Momente ein, die leicht hätten verpuffen können, ohne dass man sie je bemerkt hätte.» – Cineuorpa
THE LANDSCAPE AND THE FURY | SYNOPSIS
Ravnice, an der nordwestlichen Spitze Bosniens. Würde hier nicht die grüne Grenze zu Kroatien und damit die EU-Aussengrenze verlaufen, wäre es eine der ereignislosesten Regionen der Welt. Nur ein paar Häuser, ein paar Schuppen – wahllos über die Hügel verstreut. Die Idylle dieser scheinbar unberührten Landschaft ist trügerisch. Dunkle Träume schlummern noch in ihrem Boden, viele Minen aus dem Bosnienkrieg sind noch nicht geräumt.
Inmitten all dessen stapfen Menschen durch die Nacht, den Regen und den Schnee auf der Suche nach Schutz und einem besseren Leben. Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak und Burundi sind zu Spielfiguren unserer Politik geworden. Zuweilen trägt der Wind ihre Schreie durch die Nacht. Wenn sie brutal über die Grenze aus der EU in die graue Schwärze der Wälder gejagt werden. Entmutigt und desorientiert finden sie sich mitten im Nirgendwo von Ravnice wieder. Die Dorfbewohner wissen um das Schicksal der Flüchtlinge, sie haben es einst geteilt. Sie öffnen ihnen das alte Schulgebäude und so finden ihre erschöpften Körper und Seelen einen Moment der Sicherheit, weit weg von offiziellen Lagern und NGOs. Währenddessen laufen um sie herum die täglichen Routinen ab, der Alltag geht weiter. Trotz Flucht. Trotz Kriegen. Holz muss gehackt und Mais geerntet werden. Kinder üben Gedichte ein. Das sportliche Dröhnen von Motorrädern durchbricht die Ruhe des nachmittäglichen Kaffeerituals. Der Imam ruft zum Gebet. Irgendwo bellen Hunde und über der Grenze zieht ein grosser Vogelschwarm unregelmässige Kreise in den Himmel.
Rezension
Von Doris Senn
Am Anfang sehen wir Schwarz. Minutenlang. Hören schwere Schritte auf schlammigem Boden, mühevolles Atmen, fernes Hundegebell. Dann: Wald bei Tageslicht, endlos und grün. Flüchtlinge ziehen in Gruppen hindurch, passieren eine grenznahe Dorfsiedlung. THE LANDSCAPE AND THE FURY von Nicole Vögele beleuchtet diesen stillen Brennpunkt der Geopolitik.
Auf dem Weg in eine bessere Zukunft
Der Film versetzt uns mitten hinein, doch muss man sich erst zurechtfinden in diesem Nowhere, das THE LANDSCAPE AND THE FURY mit langen statischen Einstellungen präsentiert. Oft sind es Totalen, die vor allem Natur zeigen: Grün, immer wieder Wald, aber auch Himmel, ziehende Wolken, ein Maisfeld unter Wasser. Irgendwo ein Mensch oder ein Grüppchen, das sich durch Wind und Wetter kämpft. Wir sehen eine Holzhütte in der Pampa, ein leeres Schulhaus, das von Menschen für eine Nacht oder zwei zum Zuhause wird, ein Feuer, das die durchnässten Migrant:innen wärmt und auf dem sie Speisen aus ihrer Heimat kochen. Lange wissen wir nicht, wo wir sind. Dann sehen wir eine Moschee in der Dorfsiedlung, deren Supermarkt auch Treffpunkt für die Bewohnerinnen ist. Und es konkretisiert sich: Wir sind in Bosnien – in Ravnice, einem kleinen, verlorenen Dorf im Nordwesten des Landes, vom angrenzenden Kroatien nur durch einen Fluss getrennt.
Kriegstrauma und Flucht
Die Natur ist grenzenlos – nicht so die menschengeschaffene Welt. Kroatien, an der Aussengrenze der EU gelegen, schiebt die Flüchtenden ab (muss sie abschieben) und vollzieht regelmässig teils brutale Pushbacks. Die Dramen entlang der grünen Grenze spielen sich oft im Dunkel der Nacht ab. Man hört Geschrei, Weinen. Zurück bleiben zerstörte Handys, verstreute Fotos, kaputte Jacken, Taschen. Die Kamera (Stefan Sick) fängt auch diese Überbleibsel in langen Einstellungen ein – als Sinnbilder für die traumatisierenden Vorkommnisse: Menschen werden ausgeschafft, Familien auseinandergerissen, Träume zerstört.
Menschlichkeit und Anteilnahme. Trotz allem
Die Flüchtlinge, deren Gesichter wir schemenhaft im Licht des Feuers sehen, stammen aus Afghanistan, dem Irak, Syrien. Sie und ihre Reise bilden einen Strang der Erzählung. Den anderen bilden die Narben des vergangenen Jugoslawienkriegs – etwa in Form von Landminen, die noch überall verstreut sind, aber auch in Form von Erinnerungen, die die Ansässigen teilen. Nicht zuletzt aus diesen Erfahrungen entstehen die Anteilnahme und Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtenden, die längst den Alltag der Anwohnenden prägen. Eine der herzerwärmendsten Szenen: wie zwei Kinder ein aufblasbares Planschbecken geschenkt bekommen und alle des Flüchtlingsgrüppchens um dieses unverhoffte Geschenk herum einen Augenblick der Unbeschwertheit erleben.
Kontemplatives Kino
Nicht von ungefähr erinnern Bildkomposition und Erzählweise an das «Slow Cinema» von Cyril Schäublin (UNRUEH), Salomé Jashi (TAMING THE GARDEN) oder Tizian Büchi (L’ÎLOT). Auch Nicole Vögele stützt sich auf statische Kadrierungen und unterläuft die Konventionen klassischer Narration. Vögele – selbst TV-Redaktorin – hat sich für diese filmische Kunstform entschieden, weil sie die «extremste Entfernung zu Fernsehen» suchte. Eine fast schon meditative Montage (Hannes Bruun) fügt in THE LANDSCAPE AND THE FURY Episode an Episode und veranschaulicht das Dorfleben – vom Holzhacken über die Maisernte bis hin zu den jungen Erwachsenen, die mit ihren Töffs wild den Hügel auf und ab fahren –, lässt aber auch die Strapazen der Flucht erahnen, beides in Gesprächen, die der Film wie «mithört». Die Jahreszeiten schaffen eine lose Struktur: Herbst, Winter, Sommer, wieder Winter… Die dort ansässigen Menschen und diejenigen auf der Flucht leben ihr Leben oder gehen ihren Weg – in einem flüchtigen Miteinander.
Fazit: Eindringlich gelingt dem Dokfilm THE LANDSCAPE AND THE FURY, einen atmosphärischen Bogen von vergangenem Kriegsgeschehen zu heutigen Migrationsbewegungen zu spannen und die Realität mit poetischer Eindringlichkeit nachzuzeichnen. Die Regisseurin Vögele schafft mit ihrem Slow-Cinema-Werk ein grossartiges Poem, in dem – trotz allem Wahnsinn, der die heutige Welt prägt – Humanität und Hoffnung aufblitzen.