SANTOSH ist das Spielfilmdebüt der britisch-indischen Drehbuchautorin und Regisseurin Sandhya Suri. Sie hat bereits mit ihren Dokumentarfilmen I FOR INDIA und AROUND INDIA WITH A MOVIE CAMERA sowie ihrem Kurzfilm THE FIELD internationale Aufmerksamkeit erregt. Die Idee zu ihrem Drama über die junge verwitwete Frau Santosh, die in den Polizeidienst eintritt, hatte Sandhya Suri während eines Aufenthalts in Indien, wo sie mit verschiedenen NGOs zusammenarbeitete.
SANTOSH
Tiefe Einblicke in eine ungleiche und harte nordindische Gesellschaft, die in Opfer und Täter geteilt ist.
SANTOSH | SYNOPSIS
Santosh ist gerade einmal 28 Jahre alt, als ihr Mann bei einer Aufruhr ums Leben kommt. Durch ein Programm der indischen Regierung wird ihr sein Posten bei der Provinzpolizei vererbt. Die erfahrene Polizistin Sharma nimmt sie unter ihre Fittiche. Gemeinsam beginnen sie, im Mordfall eines Mädchens aus einer unteren Kaste zu ermitteln. Santosh wird dabei mit der harten Realität patriarchaler Machtstrukturen konfrontiert, in der Korruption und Willkür, aber auch das angstvolle Schweigen der Opferfamilien an der Tagesordnung sind. Ihre Mentorin zeigt ihr zwar, wie sie sich als Frau in diesem System behaupten kann. Doch zu welchem Preis? (IFFMH)
Sandhya Suri ist eine britisch-indische Autorin und Regisseurin. Ihr Debütfilm SANTOSH feierte im Mai 2024 seine Premiere in der Kategorie Un Certain Regard bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes. Sandhyas erster Kurzspielfilm THE FIELD gewann 2018 den Preis für den besten internationalen Kurzfilm beim Toronto International Film Festival (TIFF) und wurde 2019 für den BAFTA als bester Kurzfilm nominiert. Ihr Dokumentarfilm I FOR INDIA feierte seine Premiere in der Sektion World Competition des Sundance Film Festivals. 2023 wurde Sandhya von Screen International als Star of Tomorrow ausgezeichnet.
SANTOSH | WEITERE STIMMEN
«SANTOSH fesselt nicht nur als packender Thriller und psychologische Studie, sondern weist auch eine dokumentarische Schärfe auf, die indische soziale Phänomene mit intensiver analytischer Präzision untersucht.» – Jonathan Romney, Financial Times | «Eine strahlende Botschaft menschlicher Würde.» – Jury, FIFDH | «Regisseurin Sandhya Suri erzählt ganz aus der Perspektive der unerfahrenen jungen Santosh, die im Verlauf ihrer Ermittlungen schmerzhafte Erkenntnisse sammelt und ihre moralische Unschuld verliert. Sie bewegt sich als Frau in einer sexistischen Gesellschaft, in der sie von Männern mehr oder weniger gegängelt wird. Abfällige Bemerkungen oder indiskrete Fragen gehören zum Alltag. Geschützt wird sie lediglich durch die Uniform, da diese auch Männern klarmacht, dass ein übergriffiges Verhalten Konsequenzen für sie haben könnte. Santosh schätzt deshalb die weibliche Solidarität Sharmas umso mehr, merkt aber zu spät, dass diese andere gefährliche Vorurteile hat.» – Kira Taszman, Filmdienst
Rezension
Von Doris Senn
Santosh, eine junge Witwe des unteren Mittelstands, «erbt» den Job ihres Mannes, als dieser bei einem Einsatz als Polizist ums Leben kommt. «Anstellung aus Mitgefühl» nennt man dies gemäss Staatsprogramm. Die britisch-indische Filmemacherin Sandhya Suri zeigt in ihrem Spielfilmdebüt die Herausforderungen, denen sich die frischgebackene Polizistin gegenübersieht, und gibt gleichzeitig einen kritischen Einblick in die indische Gesellschaft.
Sozialstudie und feministischer Thriller
Angesiedelt im ländlichen Nordindien, zeichnet SANTOSH den neuen Alltag, den die Hauptfigur zu meistern hat. In der dezidiert misogynen Kastengesellschaft Indiens spürt die Polizistin Santosh die Macht der Uniform. Aus eigener Erfahrung weiss sie um die vielfachen Diskriminierungen – gegenüber Frauen, Armen, Unterdrückten – und stellt sich auf ihre Seite. So nimmt sie sich der Sache eines Vaters an, eines «Unberührbaren», der seine junge Tochter vermisst und von den Behörden abgewimmelt wird. Als die Vermisste wenig später tot im Dorfbrunnen aufgefunden wird, wird dies zu Santoshs erstem Fall. Die Suche nach den Hintergründen verdichtet sich zu einer thrillerhaften Tätersuche. Auch, weil die Ermordete zuvor vergewaltigt wurde.
Teufelskreis der Macht
Von der Suche nach Gerechtigkeit getrieben, gerät Santosh jedoch bald wie die anderen um sie herum in einen Teufelskreis von Erpressung und Machtmissbrauch. Sie verliert ihren moralischen Kompass: sei es, wenn es um das Handgeld für eine Freilassung oder um brutale Gewalt beim Erzwingen eines Geständnisses geht. Dabei zeigt die Regisseurin in den locker aneinandergefügten Episoden die Komplexität der indischen Gesellschaft auf, die von Misogynie, Kastensystem, Religionskonflikten und Korruption gezeichnet ist. Von Haus aus Dokfilmerin, lässt die in England aufgewachsene Sandhya Suri viel Dokumentarisches einfliessen.
Frauensolidarität und Empowerment
SANTOSH zeigt auch, wie Female Bonding, die Solidarität unter Frauen, eine wichtige Rolle spielt in einer angestrebten Veränderung der tief patriarchalen Gesellschaft: Santoshs Vorgesetzte Sharma – beide bewegen sich in einem dominanten Männerumfeld – ist Santosh gegenüber wohlgesinnt und fördert die junge Mitarbeiterin. Darüber hinaus macht Sharma diskrete Avancen für eine engere Bindung, die Santosh aber zurückweist. Die Regisseurin, die auch das Drehbuch geschrieben hat, bricht mit einfachen Erzählmustern zugunsten von Vielschichtigkeit. Gespielt wird Santosh von Shahana Goswami, einer indischen Schauspielerin mit 20-jähriger Bollywood-Erfahrung, die der Figur Intensität und eine spannende Rätselhaftigkeit verleiht.
Fazit: SANTOSH ist ein fesselnder, aber auch verstörender Film. Nicht nur wegen seiner eigenwilligen Erzählweise, sondern insbesondere wegen der expliziten Gewaltszenen, die teils schwer auszuhalten sind. Gleichzeitig gelingt der Regisseurin Sandhya Suri in ihrem Spielfilmdebüt ein realitätsnaher Blick auf die die indische Gesellschaft aus Frauensicht, der die herrschenden Machtstrukturen offenlegt. Seine Weltpremiere erlebte der Film 2024 in Cannes – das (Haupt-)Produktionsland Grossbritannien nominierte ihn sogar für die diesjährigen Oscars.