Im August kommt der Film «Ruäch – Eine Reise durch das jenische Europa» in die Kinos. Willi Wottreng attestiert den Schweizer Filmemachern ein aufrichtiges Interesse an den Jenischen – und das in politischer und sozialer Hinsicht. Doch gibt der profunde Kenner jenischer Geschichte auch zu denken: Im Interview spricht Wottreng von den Schwierigkeiten, die mit fehlender Sichtbarkeit einhergehen, der Bedeutung ihrer Sprache und wieso er eine «Exotisierung» der Jenischen kritisch betrachtet.
RUÄCH | Willi Wottreng
- Publiziert am 18. Juli 2023
Willi Wottrengs Arbeiten beschäftigen sich mit der jenischen Welt. Im Interview spricht er nun über einen neuen Film, der es ihm gleichmacht.
«Mich hat überrascht, dass die Filmemacher überhaupt den Zugang zu Jenischen gefunden haben.»
Willi Wottreng publizierte nebst vielem anderen «Jenische Reise» (2020) – ein Roman über die tausendjährige Geschichte der Jenischen – oder jüngst die Kriminalkomödie «Die Brigantinnen» (2023). Ebenfalls leitete er eine Arbeitsgruppe, die 2023 ein Schullehrmittel herausgab über Jenische, Sinti und Roma, das als pionierhaft gilt (s. auch williwottreng.ch).
Ein Interview mit Willi Wottreng
Von Doris Senn
Willi Wottreng, Sie sind Journalist, Buchautor und Geschäftsführer der Radgenossenschaft – ein profunder Kenner der Geschichte der Jenischen und ein Verfechter ihrer Rechte. Wie hat Ihnen der Film «Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa» gefallen?
Mir hat er sehr gut gefallen. Zum einen, weil er die Jenischen europaweit besucht und damit erstmals als transnationale, europäische Volksgruppe thematisiert. Damit zeigt er andere Aspekte als etwa «Jung und jenisch», der junge Leute in der Schweiz porträtierte, oder als «Unerhört jenisch» mit Stephan Eicher über die jenisch geprägte Volksmusik [von 2010 bzw. 2017, beide von Martina Rieder und Karoline Arn, Anm. der Red.]. Zum andern sind bei «Ruäch» zwei Regisseure, die im Film selber auftreten, zu Besuch bei jenischen Familien – unter Einbezug der eigenen Perspektive. Es ist eine neue Geschichte, die sie erzählen. Und je mehr neue Geschichten entstehen, umso mehr wird die jenische Geschichte «dreidimensional» und damit plastischer, vielfältiger und nicht mehr auf ein paar Schlagwörter reduzierbar.
Der Film ist das Ergebnis aus sieben Jahren Arbeit und vielen Hundert Stunden Aufnahmen. «Ruäch» ist eine ebenso spannende wie tiefgründige Annäherung an die Jenischen und ihre Geschichte. Gibt es etwas, was Sie in der Filmerzählung überrascht hat?
Überrascht hat mich, dass diese Filmemacher, die nicht jenisch sind, überhaupt den Zugang zu Jenischen gefunden haben. Etwa zu der Familie in Annemasse, in der Nähe von Genf. Man hätte sich vorstellen können, dass ihnen das nicht gelingt – doch sie haben es geschafft. Andererseits erzählt der Film jedoch von keinen Jenischen, die sesshaft sind, in gewöhnlichen Wohnungen leben und einem Erwerb nachgehen wie du und ich. Im Film sind alle etwas randständig und eher arm. Dadurch gibt es eine gewisse Gefahr einer «Exotisierung». Aber das wird aufgehoben dadurch, dass der Film eine von vielen Geschichten über die Jenischen ist.
Was genau bedeutet «Ruäch»…?
«Ruäch» bezeichnet einen Nicht-Jenischen – ebenso wie «Buur», was auch im Film Erwähnung findet.
… und welche Menschen und Länder umfasst das «jenische Europa»? Wo bleiben die Sinti, die Roma?
Wir in der Schweiz hatten eigentlich immer das Gefühl, dass die Jenischen im Alpenraum «erfunden» wurden. Jetzt stellt sich mehr und mehr heraus, dass es rundum Jenische gibt, die erst jetzt sichtbar werden. In Deutschland blieben sie verborgen nach dem Holocaust. In Österreich war es noch schlimmer; alles war verboten, was mit der traditionellen jenischen Lebensweise zu tun hat: Das Fahren, Hausieren, die Sprache – alles stand unter Verbot. In Frankreich, das keine Ethnien anerkennt, gelten sie als «gens de voyage», und davon ist ein grosser Teil jenisch. Es gibt Jenische in Lothringen, in Luxemburg, in den Niederlanden, in Ungarn. Bei den Sinti und Roma mach ichs kurz: Sie leben überall in Europa. Sie sind bekanntermassen die grösste europäische Minderheit überhaupt.
Das Jenische tritt im Film als Geheimsprache auf und als Instrument, um sich als Gruppe zu behaupten und sich gegenüber andern abzugrenzen. Gab bzw. gibt es eine europäische jenische Sprache? Verstehen Sie sie? Verstehen wir sie?
«De Loli tschaned herlem» – das verstehen Sie sicher nicht. Das versteht aber wahrscheinlich jede:r Jenische in jedem europäischen Land. Jenische in verschiedenen Ländern haben einen ähnlichen Wortschatz, angereichert durch regionale Ausdrücke und Aussprache. Deshalb Ja: Es gibt so etwas wie eine gemeinsame Sprache, mit der die verschiedenen Jenischen untereinander in Kontakt treten können.
Der Film zeigt nicht zuletzt auch ein Dilemma auf: Damit Minderheiten Rechte einfordern können, braucht es Sichtbarkeit. Aber mit der Sichtbarkeit ist immer auch die Gefahr von Diskriminierung und Verfolgung verbunden. Können Sie die Angst der Jenischen, sich mit den Filmemachern hier und jetzt zu treffen, nachvollziehen?
Absolut. Die Jenischen wurden als Kollektiv traumatisiert. In der Schweiz durch die Aktion «Kinder der Landstrasse», durch den Holocaust in Deutschland und Frankreich – oder in Österreich, wo sie in die Nazimühlen kamen. Es gibt beide Meinungen: Die einen sagen, oute dich nicht; auch nicht die Sprache. Es kommt der Tag, wo wir das alles wieder brauchen. Die andern meinen, wir müssen uns outen und Anerkennung gewinnen – das ist unser bester Schutz. Die Geschichte wirds zeigen.
Wenn man der einen oder andern Familie im Film zuschaut, hat man das Gefühl, es seien Hippies oder moderne Nomaden: die Suche nach Unabhängigkeit und Freiheit, das Unterwegssein, das Leben in und mit der Natur. Wieso hat sich das Misstrauen, dieses Unbehagen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Fahrenden bis heute halten können?
Ich weiss nicht, ob Sie wirklich mich das fragen müssen. Das würde mich selbst interessieren. Vielleicht könnte man es mit der Unterdrückung der jenischen Lebensweise erklären: Je weiter weg Fremde sind, umso stärker sind die Vorurteile ihnen gegenüber. Und entsprechend voreingenommene Bilder. Wir erleben das Gegenteil dort, wo Jenische bis vor kurzer Zeit in Verbindung mit Bauern oder teils auch der Stadtbevölkerung lebten, und die Menschen ihre Begegnungen mit Jenischen als sehr positiv bewerten. Diese alltägliche Nähe und das Zusammenleben sind heute aber weitgehend unterbrochen.
«Ruäch» zeigt das Jenische als Kultur, als Mentalität, seine Geschichte, seine Sprache, seine Musik – haben Sie im Film etwas vermisst?
Vielleicht eher das Gegenteil: Wenn ausschliesslich die «Spezialitäten» der jenischen Kultur gezeigt werden, kommt das, was gleich ist wie bei Nicht-Jenischen, etwas zu wenig zum Zug – etwa dass Buben und Mädchen auch Fussball spielen, dass sie Popmusik hören, Bier und Wein trinken, an Partys gehen. Dadurch entsteht eine gewisse Gefahr des «Othering», der betonten Unterscheidung und Distanzierung von einer «anderen» Gruppe als der eigenen.
Der Film zeigt nicht zuletzt, wie eine starke spirituelle Komponente die Lebensweise der Jenischen prägt, der Glauben an übersinnliche Kräfte und Wesen. Könnten Sie dazu etwas sagen?
Ich würde meinen, dass eine grosse Zahl der Jenischen einen hohen Grad von Religiosität besitzt, jedoch eine Art von Volksreligiosität – im Sinne, dass auch in einem Baum Leben ist, dass man ihn umarmen kann, die Angst vor Geistern oder etwa die Dankbarkeit für einen Segen. In dem Sinne würde ich von Volksreligiosität oder Volksspiritualität in ihren verschiedensten Formen sprechen.
Wem würden Sie den Film empfehlen?
Allen, die guten Willens sind – um jetzt etwas unpassend die Bibel zu zitieren. Der Film ist unterhaltsam, es ist eine Art Roadmovie und eine «Kulturreise» mit aufrichtigem Interesse für eine Minderheit in politischer, aber auch sozialer Hinsicht. Er bringt allen etwas, würde ich meinen.