Mitte des 19. Jahrhunderts wird der kleine Edgardo im Auftrag des Papstes seiner Familie entrissen und unter dessen Obhut zum katholischen Glauben erzogen. Der erbitterte Kampf seiner Eltern, Edgardo zurück zu bekommen, wird schnell zum Politikum.
RAPITO - DIE BOLOGNA-ENTFÜHRUNG
Ein starkes Drama von einem jüdischen Jungen, der zum katholischen Glauben gezwungen wird. Inspiriert von der wahren Geschichte Edgardo Mortaras.
Marco Bellocchio (geboren 1939 in Piacenza, Italien) gewann bereits mit seinem Debütfilm MIT DER FAUST IN DER TASCHE beim Filmfestival von Locarno 1965 das Silberne Segel. Seitdem hat er zahlreiche internationale Preise und Auszeichnungen erhalten, darunter den Goldenen Löwen (2011) für sein Lebenswerk beim Internationalen Filmfestival von Venedig. Sein filmisches Gesamtwerk war im Rahmen unzähliger Retrospektiven rund um den Globus auf der grossen Leinwand zu erleben – unter anderem 2014 im MoMA in New York, wo Bellocchios fünfzigjähriges künstlerisches Schaffen gewürdigt wurde, beim 43. Internationalen Filmfestival von La Rochelle und 2018 vom British Film Institute in London. 2019 feierte IL TRADITORE – ALS KRONZEUGE GEGEN DIE COSA NOSTRA WELTPREMIERE im Wettbewerb von Cannes. 2021 präsentierte Bellocchio seinen Dokumentarfilm MARX CAN WAIT ausser Konkurrenz im Wettbewerb von Cannes, im selben Jahr erhielt er die Goldene Ehrenpalme. 2022 kehrte er für die Premiere der TV-Serie UND DRAUSSEN DIE NACHT zurück nach Cannes, wo er im darauffolgenden Jahr RAPITO – DIE BOLOGNA-ENTFÜHRUNG im Wettbewerb des Festivals präsentierte.
RAPITO – DIE BOLOGNA-ENTFÜHRUNG | Synopsis
Ein Film von Marco Bellochhio («Il traditore», «Fai bei sogni») Bologna, 1858: Im Auftrag des Papstes dringen Soldaten in das Haus der Familie Mortara im jüdischen Viertel der Stadt ein. Sie erheben Anspruch auf Edgardo, den siebenjährigen Sohn der Mortaras. Als Säugling wurde der Junge heimlich von seiner Amme getauft und so gilt das damals unumstössliche päpstliche Gesetz: Edgardo muss katholisch erzogen werden. Die verzweifelten Eltern tun alles, um ihren Sohn wiederzubekommen. Unterstützt von der Öffentlichkeit und der internationalen jüdischen Gemeinde, nimmt der Kampf der Mortaras schnell politische Dimensionen an. Doch die Kirche und der Papst weigern sich, das Kind zurückzugeben und nutzen den Fall, ihre schwindende Macht erneut zu stärken…
Rezension
Von Madeleine Hirsiger
Bologna im Jahr 1858. Hier hat am 24. Juni eine aufsehenerregende Entführung stattgefunden, die ziemlich genau dokumentiert ist. Eine Geschichte, die den 84-jährigen italienischen Regisseur Marco Bellocchio nicht losgelassen hat. Es geht um die jüdische Familie Mortara, kinderreich und angesehen und in ihrem Glauben stark verwurzelt. Am späten Abend, die Kinder sind mehrheitlich im Bett, poltert ein Inspektor mit seinen Carabinieri an die Tür. Im Namen des Papstes sind sie beauftragt, das sechste Kind der Familie, den 7-jährigen Edgardo abzuholen und in ihre Obhut zu nehmen. Es wurde ihnen zugetragen, dass der Junge als Säugling heimlich getauft wurde und jetzt katholisch zu erziehen sei.
Der allmächtige Papst
Alles Protestieren nützt nichts: Der Bub wird weit weg nach Rom in ein Katechumenen Haus gebracht, zu andern Jungen, die zu guten Christen erzogen werden sollen. Die Hand der katholischen Kirche schliesst sich um Edgardo, es gibt kein Entrinnen. Er wird sogar zum Liebling des Papstes. Weltweit wird der Fall der Entführung bekannt, jüdische Gemeinden werden beim Papst vorstellig und bitten bei einer Audienz auf den Knien um seine Freilassung. Bis nach Amerika machen die Zeitungen den Fall zum Thema. Ja, sogar Napoleon III, ein Katholik erster Güte, billigt das Vorgehen Roms nicht. «Seit wann hat man die Beschlüsse des Papstes zu billigen!», wettert der schon angeschlagene Pius IX. In dieser Zeit gehörte Bologna zum Kirchenstaat, wo es noch die Römische Inquisition gab – und die war der Allmächtige selbst.
Spannendes Zeitbild
Es steht nicht gut um die Finanzen des Heiligen Stuhls. «Wenn die Rothschilds ihr geliehenes Kapital in der Höhe von 1 Mio. Pfund Sterling auf einmal zurückfordern, sind wir pleite», sagt der Sekretär des Papstes. Der Fall «Mortara» werfe ein schlechtes Licht auf die katholische Kirche. Schliesslich kommt noch eine Zeitebene dazu: Der Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi versucht schon lange, Italien zu einigen. Die intensivste Zeit für seine Einigungsbewegung war um 1860. Damals verlor der Papst nach und nach seine Macht, die Revolutionäre sind im Vormarsch, neue Allianzen bilden sich oder fallen auseinander.
Eine italienische Geschichte
Er habe keinen Film gegen die Kirche gemacht. Er habe mit den Mitteln der Kunst eine italienische und rätselhaft-komplexe Geschichte erzählen wollen, sagte er in einem Interview auf dem TV-Sender arte. Das ist ihm gelungen. Und auch wenn es sich hier um eine Entführungsgeschichte handelt, klingen in diesem Historiendrama mit heutigen Augen betrachtet, die aktuellen Missbrauchsgeschichten der katholischen Geistlichen mit.
Fazit: Dem Altmeister Bellocchio gelingt es, aus dieser Geschichte ein spannendes Zeitbild zu zeichnen. Warmes Kerzenlicht bestimmt die Stimmung, die Kleider sind sorgfältig gewählt, die Ausstattung aufwendig opulent, die Inszenierung beeindruckend. Auch mit der Besetzung der Rollen hatte er eine gute Hand: Alle Figuren sind glaubhaft besetzt, allen voran der kleine Edgardo (Enea Sala), dem man jede Geste, jeden Blick glaubt.