Nach der Goldenen Palme 2018 für SHOPLIFTERS sowie seinen Filmen, die er in Frankreich (LA VÉRITÉ) und Südkorea (BROKER) drehte, kehrt Meisterregisseur Hirokazu Kore-eda mit MONSTER nach Japan zurück – einer berührenden Geschichte, die beim letzten Filmfestival in Cannes für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde.
MONSTER
Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda bringt erneut ein sensibel erzähltes Familiendrama voller Wendungen auf die Leinwand.
MONSTER | Synopsis
Als Minato sich zu Hause immer merkwürdiger verhält, beschliesst seine Mutter, die Lehrkräfte der Schule zur Rede zu stellen. Auf den ersten Blick deutet alles darauf hin, dass sein Lehrer für Minatos Verhalten und Probleme verantwortlich ist. Doch durch jede neue Wahrnehmung, die wir durch die Erzählperspektive der Mutter, des Lehrers und Minato erfahren, präsentiert sich die Wahrheit immer komplexer und überraschender.
MONSTER | Rezension
von Ondine Perier
Ausgangspunkt ist der elfjährige Schüler Minato. Er beklagt sich bei seiner Mutter über das Verhalten seines Lehrers Herr Hori. Die Direktorin lädt die Beteiligten vor. Mikados Mutter sieht sich mehreren Lehrpersonen gegenüber, die anstelle des jungen, frisch eingestellten Herrn Hori, das Wort ergreifen, während die Direktorin zu allem schweigt. Die Indolenz der Schulvorsteherin macht Saori wütend. Sie fordert vehement eine Entschuldigung und Wiedergutmachung. Ihr Sohn sei verbaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen.
Nuancierte und komplexe Charaktere
Minato ist ein rätselhafter Junge, der auf der Leinwand als seltsames und trauriges Kind erscheint. Der Tod seines Vaters vor einigen Jahren mag seine Trauer erklären. Seine Mutter Saori ringt den Zuschauer:innen Bewunderung ab: dynamisch, willensstark, positiv, sehr fürsorglich und um ihren Sohn besorgt. Sie wird hervorragend von Sakura Ando verkörpert, die bereits in einem früheren Film des Regisseurs zu sehen war. In EINE FAMILIENGESCHICHTE spielte sie eine Ersatzmutter voller Energie. Lehrer Hori wirkt äusserst neugierig, fröhlich, aufmerksam gegenüber seinen Schülern und geht liebevoll mit seiner Geliebten um. Die Schulleiterin wirkt wiederum apathisch, depressiv und kalt. Da ist aber auch noch Minatos Mitschüler Yori, ein sonniges Kind, das immer lächelt und sehr unabhängig gegenüber seinen Mitschüler:innen ist. Er muss für alles was in seiner Klasse passiert als Sündenbock herhalten.
Japanischen Meister der Erzählers
Alle diese Figuren interagieren in MONSTER überzeugend. Ihre Komplexität und ihre Nuancen werden im Laufe des Films immer deutlicher enthüllt. Das passiert, ohne dass dies vorhersehbar wäre, aber frei von jeglicher Künstlichkeit. Und genau hier liegt das grosse erzählerische Talent des japanischen Meisters Kore-eda Hirokazu: Er verwebt die Beziehungen zwischen den Protagonist:innen auf subtile Weise und berichtet über ihre Entwicklung, zeigt ihre Bewusstwerdung und verwendet dazu geschickt Rückblenden. Auf diese Weise kann man sich sanft in diese kleine Gemeinschaft einfühlen. Der Antagonist – das wahre Monster – lauert und drängt, aber die Aufrichtigkeit der Gefühle und das Wohlwollen bilden einen soliden Schutzwall gegen die drohenden Grausamkeiten.
Allen Widrigkeiten zum Trotz
«Glücklich zu sein ist nicht nur einigen vorbehalten, es ist für jeden erreichbar.» Diesen Satz, den die Direktorin dem jungen Minato gegenüber äussert, entwickelt im Film eine grosse befreiende Kraft. Hirokazu Kore-edas Teenager-Chronik behandelt Themen, die für die Kindheit typisch sind: das Aufkeimen von Gefühlen, die Angst vor Ablehnung durch Mitschüler:innen oder Eltern, Schuldgefühle und schliesslich die Unschuld. Aber auch wie man einen Zufluchtsort findet, um diesen – allen äusseren Widrigkeiten zum Trotz – sich bewahren kann.
Hervorzuheben ist auch die eindringliche Musik des Films. So erheben sich die donnernden Blechbläserklänge, wenn Gefahr droht. Die melodiöse Schlusspartitur, die den erhabenen Soundtrack des im März verstorbenen Ryuichi Sakamoto abschliesst, rundet die Betroffenheit, die MONSTER auslöst, genial ab. Der französische Titel des Films L’INNOCENCE erhält seine volle Bedeutung in den letzten Einstellungen des gut zweistündigen Dramas, die von atemberaubender Schönheit sind.
Fazit: MONSTER reiht sich in die anderen Filme Kore-edas über die Kindheit ein: Er erschüttert und macht bewusst, wie zerbrechlich und kostbar das Aufblühen der Gefühle ganz am Anfang der Pubertät ist. Wie schon letztes Jahr CLOSE von Lukas Dhont über Mobbing und Intoleranz in einer Gruppe von Kindern und ihre schädlichen Auswirkungen. Zwei grossartige Filme. Die narrative Struktur von MONSTER macht ihn zu einem ganz besonderen Film. Ein wunderbares Filmerlebnis und eine Reflexion über die Kindheit und ihre möglichen Qualen.