Mireia Oriol spielt in SOY NEVENKA die spanischen Ökonomin Nevenka Fernández, die ihren Vorgesetzten in einem öffentlichen Gerichtsprozess wegen sexueller Belästigung angeklagt hat. Im Interview mit arttv.ch-Filmjournalist Geri Krebs erzählt sie, wieso es wichtig war, einen eigenen Zugang zur Rolle zu finden, wieso die Dreharbeiten nicht am Originalschauplatz stattfanden und was krasse Fälle sexueller Gewalt wie aktuell jener von Gisèle Pelicot mit dem Film zu tun haben.
Mireia Oriol | SOY NEVENKA
«Trotz der Me-too-Bewegung gibt es in Teilen der Gesellschaft immer noch eine weitverbreitete Frauenfeindlichkeit.»
SOY NEVENKA | SYNOPSIS
Im Jahr 2000 wird Nevenka Fernández, Finanzstadträtin von Ponferrada, vom Bürgermeister, unerbittlich verfolgt. Er ist es gewohnt, seine eigenen politischen und persönlichen Wünsche zu erfüllen. Nevenka beschliesst zu denunzieren, obwohl sie weiss, dass sie dafür einen hohen Preis zahlen muss. Die von wahren Begebenheiten inspirierte Geschichte macht die ihre Protagonistin zu einer Pionierin der Me-too-Bewegung in Spanien. Denn sie bringt zum ersten Mal einen einflussreichen Politiker wegen sexueller Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz vor Gericht.
Interview von Geri Krebs
arttv: Wann hatten Sie erstmals vom Fall Nevenka Fernández gehört?
Mireia Oriol: Als dieses Geschichte passierte, war ich erst vier. Auch in der Zeit danach, als der Fall jahrelang die spanische Öffentlichkeit bewegte, war ich noch zu klein, um etwas mitzubekommen. Ich hatte also ursprünglich keinen persönlichen Bezug zu dieser Story und der Figur, die ich im Film verkörpere. Es lief alles über eine Castingagentur: Von ihr bekam ich eine Anfrage und das Drehbuch. Es gefiel mir sofort. Das Casting selber war ein längerer Prozess.
Kannten Sie die Regisseurin Icíar Bollaín bereits?
Persönlich kannte ich sie nicht, aber ihre Filmografie war mir vertraut. Icíar Bollaín ist ja eine der wichtigsten spanischen Regisseurinnen überhaupt. Mir gefällt an ihren Filmen, dass sie niemals nach dem simplen Schema hier die Guten, da die Bösen funktionieren, sondern stets viel komplexere Charaktere zeigen. Ausserdem stehen oftmals starke Frauenfiguren im Zentrum.
Wie bereiteten Sie sich auf Ihre Rolle vor?
Ich begann mich sofort in die Geschichte zu vertiefen, las das Buch mit dem langen Titel: «Hay algo que no es como me dicen: el caso de Nevenka Fernández contra la realidad» (Es gibt etwas, das nicht so ist, wie sie mir sagen: der Fall Nevenka Fernández gegen die Realität). Der Journalist und Schriftsteller Juan José Millás hatte darin 2004 den Fall akribisch recherchiert und aufgearbeitet. Dieses Buch war auch eine der Quellen für das Drehbuch zu SOY NEVENKA. Eine andere Quelle war die dokumentarische Miniserie NEVENKA, die Maribel Sánchez-Maroto 2021 für Netflix realisierte.
Lernten Sie während Ihrer Vorbereitungszeit bereits die reale Nevenka Fernández kennen?
Ja, denn ich war selbstverständlich sehr neugierig darauf, zu erfahren, wie sie heute lebt. Aber die persönliche Begegnung fand dann tatsächlich erst unmittelbar vor Beginn der Dreharbeiten statt. Denn für Icíar Bollaín war es extrem wichtig gewesen, dass ich und mein Filmpartner Urko Olazabal, der den Bürgermeister von Ponferrada, Ismael Alvarez, verkörperte, auf keinen Fall versuchen sollten, die realen Personen zu imitieren. Vielmehr sollte ich mit meiner Figur aus mir selber heraus den Schmerz, den sie erfährt, in etwas Positives transformieren. Etwas, das ja dann auch Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft hat. Wir besuchten also erst kurz vor Drehbeginn Nevenka Fernández in Irland, wo sie schon länger mit ihrer Familie lebt. Diese Begegnung war sehr emotional. Gegen Ende der Dreharbeiten, bei den Szenen, die in Irland spielen, schaute sie auch während drei Tagen auf dem Set vorbei.
Nevenka Fernández war an der Weltpremiere des Films am Festival in San Sebastián anwesend. Wie erlebten Sie diesen Moment?
Unglaublich stark. Als nach der Projektion in dem mit 1800 Personen ausverkauften Saal der Festivalzentrums die Lichter angingen und Nevenka Fernández von Icíar Bollaín auf die Bühne gebeten wurde, brandete ein Beifallssturm los. Er dauerte eine volle Viertelstunde an. Es war unbeschreiblich.
Der Dreh konnte nicht am Originalschauplatz in der Kleinstadt Ponferrada in der Region Kastilien und León stattfinden. Warum?
Icíar Bollaín erhielt von den lokalen Behörden keine Drehbewilligung. Ismael Alvarez lebt nach wie vor in Ponferrada. Er ist heute 73 Jahre alt. Obwohl schon lange nicht mehr in der aktiven Politik tätig, ist er in der Stadt im Hintergrund immer noch ein mächtiger Mann. Er hat weiterhin viele Anhänger und seine Partei, der Partido Popular, regiert nach wie vor in der Stadt. Die meisten Leute in der Partei halten zu ihm. Auf der anderen Seite gibt es starke Gegenkräfte. Diese schafften es sogar, dass 2023 in Ponferrada auf einem Platz eine Gedenktafel für Nevenka Fernández errichtet werden konnte. Ponferrada ist heute eine extrem gespaltene, stark polarisierte Stadt. Icíar Bollaín verlegte deshalb die Dreharbeiten für die Aussenaufnahmen nach Zamora, einer benachbarten historischen Stadt in Castilla y León. Die Innenaufnahmen wurden in Bilbao und die Szenen am Schluss des Films in England und in Irland gedreht.
SOY NEVENKA kam wenige Tage nach seiner Weltpremiere in San Sebastián in ganz Spanien in die Kinos und wurde zu einem riesigen Erfolg. Er konnte sogar mühelos mit US-Blockbustern konkurrenzieren. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich glaube, SOY NEVENKA trifft einen Nerv. Die Geschichte ist auch heute, fast ein Vierteljahrhundert später, äusserst aktuell. Trotz der Me-too-Bewegung gibt es in Teilen der Gesellschaft immer noch eine weitverbreitete Frauenfeindlichkeit. Typen wie Ismael Alvarez kommen andernorts oftmals straflos davon und laufen frei herum. Und dann gibt es diese besonders krassen Fälle von misogyner Gewalt wie aktuell den von Gisèle Pelicot. Ich glaube, dass Prozesse wie dieser dann doch auch zu einer grösseren Sensibilisierung in der Gesellschaft beitragen.
Die Karriere von Icíar Bollaín hatte als Schauspielerin begonnen, etwa bei Victor Erice oder Ken Loach, bevor sie ins Regiefach wechselte. Können Sie sich einen ähnlichen Weg auch vorstellen?
Ob ich fähig wäre, Regie zu führen, weiss ich derzeit noch nicht. Aber neben dem Schauspiel schreibe ich sehr gerne. Momentan bin ich daran, ein Drehbuch zu schreiben, das von meiner Zeit inspiriert ist, als ich im Alter von 16 bis 20 Jahre als Model arbeitete. Ich hoffe, dass es daraus dereinst einen Film gibt, der die Welt – man kann sagen die Industrie –, in der Models tätig sind, kritisch beleuchtet.