Es ist ein schwarzes Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte: Der systematische Raub jenischer Kindern durch das Hilfswerk «Kinder der Landstrasse». Das von Pro Juventute organisierte Hilfswerk verschleppte zwischen 1926 und 1972 über 2000 Kinder aus ihren Familien, die nie erfuhren, wohin man sie verbracht hatte. Im Spielfilm Lubo erzählt der italienische Regisseur Giorgio Diritti in drei dichten Filmstunden, verteilt über einen Zeitraum von zwanzig Jahren, eines dieser Schicksale.
LUBO | Giorgio Diritti
LUBO | Über den Film
Im Zentrum steht der jenische Musiker, Strassenkünstler und Familienvater Lubo Moser, verkörpert von einem diabolisch gut aufspielenden Franz Rogowski. Die Geschichte beginnt 1939, am Vorabend des drohenden Weltkriegs, als Lubo Moser von der Schweizer Armee zum Aktivdienst zwangsrekrutiert wird. Bald erreicht ihn dort die Nachricht, seine drei Kinder seien fremdplatziert und ihre Mutter beim Versuch, sie zu schützen, getötet worden. In drei Kapiteln, markiert durch die Jahre 1939, 1951 und 1959, zeigt der Film einen Mann, der auf der Suche nach seinen geraubten Kindern alles riskiert und dabei vor nichts zurückschreckt. Schauplätze seiner langen Reise durch zwei Jahrzehnte sind die Bündner Berge, Zürich, St. Gallen, Bellinzona und Verbania am italienischen Teil des Lago Maggiore. In wichtigen Nebenrollen sind mit Joel Basman und Philippe Graber auch zwei bekannte Schweizer Schauspieler zu sehen.
Ein Interview mit Giorgio Diritti
Von Geri Krebs
Bereits Ihr letzter Film, VOLEVO NASCONDERMI, ein Biopic über den Maler Antonio Ligabue – der Verdingbub war und schliesslich nach Italien ausgeschafft wurde – erzählte eine tragische, auf realen Vorkommnissen basierende Geschichte aus der Schweiz. Sie kennen die Schweiz und ihre Vergangenheit offenbar gut?
Geboren bin ich 1959 in Bologna. Das liegt zwar nicht gerade in der Nähe der Schweiz. Aber Anfang der 1960er-Jahre zogen wir nach Biella, in der Nähe des Lago Maggiore. Meine Eltern machten mit mir fortan öfters Ferien in der Schweiz, nicht nur im Tessin, sondern auch in der Deutschschweiz und der Romandie. Ich kam also schon früh mit der Schweiz in Berührung. Mit 25 heiratete ich eine Frau, deren Eltern einst als italienische Immigranten in Wädenswil und Zürich gearbeitet hatten.
Dann hatten Sie die unterschiedlichen Schweizer Schauplätze bereits vor Augen, als Sie sich an die Arbeit für LUBO machten?
Meine Location Scouts hatten vor allem bei VOLEVO NASCONDERMI eine wichtige Rolle, denn jener Film spielt ja zum Teil in St. Gallen und im St. Galler Rheintal – einer Gegend, die ich zuvor nicht kannte und wo schon seit Ende des 19. Jahrhunderts viele italienische Immigranten lebten. Bei den Recherchen zu LUBO wurde mir dann erst richtig bewusst, dass es im Grenzdreieck St. Gallen, Vorarlberg, Graubünden auch eine starke Präsenz von Jenischen gab. Und in der Zeit kurz vor Beginn des 2. Weltkriegs versuchten hier dann ja auch viele jüdische Flüchtlinge aus Österreich, Schweizer Boden zu erreichen – in LUBO ebenfalls ein wichtiges Element, über das ich hier aber nicht zu viel verraten möchte.
Am Anfang des Films heisst es: Frei inspiriert vom Roman «Il seminatore» von Mario Cavatore, erschienen 2004. Wo weicht der Film vom Roman ab?
Im Roman ist die Hauptfigur ein Jenischer, der sich an der Gesellschaft rächt, indem er reihenweise Frauen der besseren Gesellschaft verführt und schwängert, deshalb der Titel «Der Sähmann». Das Element des Kinderraubs spielt dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Ich habe dann für den Film die Geschichte der Pro Juventute und der Kinder der Landstrasse recherchiert. Ich kannte sie zuvor nicht und war schockiert, als ich davon erfuhr. Mario Cavatore, den aus Cuneo stammenden und 2018 verstorbenen Schriftsteller, durfte ich noch selber noch kennenlernen. Er erzählte mir, wie er für Recherchen zu seinem Roman für längere Zeit mit einem Wanderzirkus umherzog, um so mehr über nomadisches Leben zu erfahren. Doch diese Zirkusleute waren keine Jenischen.
Im Film werden drei Sprachen gesprochen: Schweizerdeutsch, Jenisch und Italienisch. Hauptdarsteller Franz Rogowski ist Deutscher und drückt sich in allen drei Sprachen fliessend aus. Gab es hier Nachsynchronisation?
Nein. Franz Rogowski probte über längere Zeit mit einem Sprachcoach alle drei der ihm fremden Sprachen und hat unglaublich schnell gelernt. Für das Jenische hatten wir als Coach und als Beraterin Uschi Waser, selber jenisch und ein Opfer von Fremdplatzierungen. Sie wurde, nachdem man sie ihrer Mutter entrissen hatte, als Kind und Jugendliche insgesamt zwanzig Mal umplatziert. Heute ist sie Präsidentin von «Naschet Jenische», einer Stiftung, die sich unter anderem für die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen einsetzt. Was die jenische Sprache betrifft: sie existiert nicht als geschriebene Sprache. Was mit der jahrhundertelangen Verfolgung zu tun hat – die Leute konnten sich so verständigen, ohne dass die feindlichen Organe des Staates sie verstanden.
Franz Rogowski trägt den ganzen Film. Und als Titel hat er die von ihm verkörperte Figur. Dachten Sie schon beim Drehbuchschreiben an ihn?
Das Casting war ein längerer Prozess. Ich sah Rogowski in TRANSIT und UNDINE von Christian Petzold und begann von da an, ihn in Erwägung zu ziehen. Davor hatte ich eher an Joel Basmann gedacht – der ja nun im Film auch eine wichtige Rolle spielt. Doch Basmann erschien mir vergleichsweise zu lieblich, zu sanft. An Rogowski bewundere ich, dass er den Wechsel von sanft und lieblich zu diabolisch und eiskalt bruchlos wie kein anderer Schauspieler vollziehen kann. Ausserdem hatte Franz Rogowski seine Schauspiellaufbahn ursprünglich als Clown begonnen, er hat eine entsprechende Ausbildung – und die Figur des LUBO ist ja ursprünglich ein Strassenperformance-Künstler, wie man heute sagen würde.
Der Film verstört: Über zwei Filmstunden folgt man dem verschlungenen Lebensweg eines Mannes, der ein fürchterliches Verbrechen begangen hat. Doch man ist geneigt, das total zu vergessen. War das Absicht?
LUBO erzählt von einem einsamen Mann, dem man alles weggenommen hat und der alleine versucht, sein Leben zu rekonstruieren. Und er lebt in einer Zeit und in einem politischen System, in dem fürchterliche Dinge geschehen und in dem der Staat grauenhafte Verbrechen begeht – Lubo versucht in diesem System zu überleben. Menschen, die in einem monströsen System leben, können selber zu Monstern werden.
Die Geschichte des Kinderraubs bei den Jenischen in der Schweiz wurde schon öfter erzählt, auch in Filmen. Was sagen Sie zum Vorwurf, LUBO sei eine alte Geschichte?
Sie haben Recht: Manche Leute in der Schweiz kennen diese Geschichte. Aber für mich ist sie durchaus aktuell. Schauen Sie doch nur, was Putin heute in den besetzten ukrainischen Gebieten mit den Kindern macht! Da wiederholt sich die Geschichte. Er verschleppt ukrainische Kinder und lässt sie in Russland zu guten Russen erziehen. Und die Leute, die heute als Handlanger von Putin arbeiten, die sind so überzeugt etwas Gutes tun wie es damals die Leute von Pro Juventute waren.