Filmemacher Raoul Peck (I AM NOT YOUR NEGRO) begibt sich, kriminalistisch wie politisch, visuell und poesievoll, auf akribische Spurensuche und lässt den südafrikanischen Fotografen Ernest Cole in Gedanken und Bildern aus dem Leben und Schaffen erzählen. Die sehenswerte Lebensgeschichte von einem, den letztlich die Bitterkeit des Exils zerstörte.
ERNEST COLE: LOST AND FOUND
Eine Hommage an einen bedeutenden südafrikanischen Fotografen, dessen Bilder mahnende Erinnerung und Weckruf zugleich sind.
**h3. ERNEST COLE: LOST AND FOUND | SYNOPSIS
Der südafrikanische Fotograf Ernest Cole führte uns in den 1960er-Jahren die Schrecken der Apartheid in Bildern vor Augen. 1967 hat er, gerade mal 27-jährig, den Fotoband «House of Bondage» (Sklavenhaus)
veröffentlicht. Seine Aufnahmen der Alltagsrealität waren beim Regime unerwünscht; das Buch wurde gebannt. Cole blieb im Exil – in den USA zunächst, in Schweden später. Dort wurden ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod im Safe einer Bank 60 000 unveröffentlichte Negative gefunden.ERNEST COLE: LOST AND FOUND | WEITERE STIMMEN
«Eine herzzerreissende Hommage an einen Fotografen, und eine Art Rätsel. Peck hat einen weiteren zeitgemässen Dokumentarfilm geschaffen, der Diskussionen über die vernichtenden Konsequenzen von Intoleranz anstossen sollte.» – Screen | «Ein lyrisches dokumentarisches Porträt des verstorbenen südafrikanischen Fotografen, der es wagte, der Welt das rassistische Regime seines Landes vor Augen zu führen» – The Guaridan | «Das durch die Fotografien dargestellte kurze Leben eines der grössten Fotografen der Apartheid.» – Les Inrocks
ERNEST COLE: LOST AND FOUND | REZENSION
von Geri Krebs
Komplexe Collage über den Horror der Apartheid und das Drama des Exils
Ein halbes Jahrhundert südafrikanischer Geschichte erzählt Oscar Preisträger Raul Peck in seinem neuen Film ERNEST COLE: LOST AND FOUND, der in Cannes 2024 mit dem Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde. Im Zentrum steht der schwarze Fotograf Ernest Cole, der als 27-Jähriger weltberühmt wurde, dann bald in Vergessenheit geriet und 1990 im Alter von erst 49 Jahren völlig verarmt starb.
«Der ganze Mensch lebt nicht nur eine einzige Erfahrung». Das liest man in Raoul Pecks Film ganz am Anfang. Ernest Cole, von dem erst kürzlich ein wahrer Schatz bisher unbekannter Fotografien aufgetaucht ist, hat den Satz im November 1968 in einem Brief an den Ausländerbeauftragten der norwegischen Regierung formuliert. Darin bittet er als Staatenloser um einen Notreiseausweis. Es ist ein Dokument, das ihm – eng befristet zwar – dann auch gewährt wird und ihm die Rückkehr nach New York ermöglicht. Er war aus den USA weggegangen, weil er die übersteigerten Erwartungen, die man an ihn, den Superstar der Fotoreportage, hatte, nicht erfüllen konnte. Ausserdem war er überhaupt von den Verhältnissen in den USA enttäuscht und musste erleben, wie stark auch dort der Rassismus den Alltag prägte. So dass er 1969 und 1970 jeweils für einige Monate in Schweden, Dänemark und England lebte, dort aber auch nicht heimisch geworden war und darum doch wieder nach New York zurückkehren wollte.
Eigentliches Ziel Fotobildband
1940 in Eersterust, einem Township ausserhalb der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria geboren, war Ernest Cole 1966 aus seiner Heimat nach New York übersiedelt. Nur mit viel Glück hatte er das Südafrika der brutalen Rassentrennung, der Apartheid, verlassen können. In Amerika lernte er 1958 den deutsch-südafrikanischen Fotografen Jürgen Schadeberg kennen, der das immense Talent des jungen Ernest Cole erkannt, und ihm das Handwerkszeug für Fotografie vermittelte. Bereits zwei Jahre vor Coles Ausreise, 1964, flüchtete Schadeberg aus seinem Heimatland. Dem Apartheid-Regime waren seine Fotoreportagen über das Leben der Schwarzen Südafrikaner und seine Tätigkeit als Mentor junger Talente zunehmend ein Dorn im Auge. Ernest Cole war zu dieser Zeit selber zum Chronisten des Lebens der schwarzen Bevölkerung unter der Apartheid geworden. Er publizierte in Zeitschriften und Zeitungen, sein eigentliches Ziel war aber, einen Fotobildband herauszugeben, wie er später erklärte. Seit er1959 mit «Menschen in Moskau» von Henri Cartier-Bresson erstmals einen Fotoband gesehen habe, sei ihm klar geworden: Genau das will ich auch machen. Das vermittelt die Off-Stimme des Schauspielers LaKeith Stanfield, die Ernest Cole repräsentiert, in Anlehnung an Aussagen von Familie, Freunden und Zeugen seines kurzen Lebens. Nur schon dieses Voiceover, bei dem man manchmal nicht weiss, wer jetzt was konstatiert, welche Aussage eine damalige, welche eine heutige Sicht repräsentiert, macht aus Raoul Pecks komplexer Collage ein Sehvergnügen, so herausfordernd , wie gelegentlich überfordernd. Pecks Film lässt den Zuschauer:innen zuweilen wenig Zeit zur Verarbeitung aller Eindrücke: Ein Vielzahl grandios komponierten Schwarz-Weiss-Bilder, Wochenschau-Aufnahmen, Filmszenen aus den USA und dem Südafrika von heute, Ausschnitte aus zwei Dokumentarfilmen über Ernest Cole aus den 1960ern, plus aktuellen Aussagen seines Neffen Leslie Matlaisane.
House of Bondage
Ähnlich wie in seinem 2017 Oscar-gekrönten I AM NOT YOUR NEGRO verfährt Raoul Peck auch in seinem neuen Film. Hatte er damals, basierend auf dem unvollendeten Buch «Remember this House» des 1987 verstorbenen amerikanischen Literaten und Bürgerrechtsaktivisten James Baldwin, eine Tour d’Horizon durch die Geschichte der Schwarzen in den USA gemacht und dabei – mit ebenso viel antirassistischem Furor wie hier – ebenfalls eine unglaubliche Fülle an visuellem Material präsentiert, ist hier das Voiceover noch eine Spur komplizierter. Der unablässigen Verbindung von Ernest Coles Aussagen mit Raoul Pecks aktuellen Kommentaren sei Dank. Doch die Anstrengung wird reich belohnt. Denn diese Lebensgeschichte von einem, den letztlich die Bitterkeit des Exils zerstörte, zeigt mit grosser Eindringlichkeit, was es heisst, sich für immer fremd fühlen zu müssen. Bei Ernest Cole kommt hinzu, dass er nie mehr nach Südafrika zurück durfte. Grund dafür war das Coles Fotobuch «House of Bondage», das 1967 in den USA erschienen war. Mit zuvor nie gesehener Deutlichkeit vermittelte es den Horror der Apartheid und avancierte bald zu einem der wichtigsten Fotobücher überhaupt. Zudem war 1967 Südafrika in den Medien aus einem anderen Grund omnipräsent: Dem Chirurgen Christiaan Barnard war im Dezember 1967 in einem Spital in Kapstadt die erste erfolgreiche Herztransplantation geglückt, womit er weltweit für Furore sorgte. Dass Barnard kein Rassist war, zeigte sich an seinem Ausspruch: «Mir ist es egal, ob ein Herz von einem Farbigen stammt oder von einem Weissen.» Eine Äusserung, die einen weniger prominenten weissen Südafrikaner wohl in Schwierigkeiten gebracht hätte.
Unerfüllte Erwartungen
Mit dem Ruhm, der über Ernest Cole durch «House of Bondage» hereinbrach, stieg auch die Erwartung, in den USA etwas Ähnliches über die Situation der dortigen schwarzen Bevölkerung zu realisieren. Anfang 1968 hatte ihn darum die New York Times beauftragt, eine umfangreiche Fotoreportage über das Leben schwarzer Amerikaner:innen in den Vorstädten und Ghettos der ärmsten Südstaaten der USA zu machen, da wo die Rassentrennung gesetzlich erst seit einem Jahrzehnt aufgehoben worden war. Coles Auftraggeber waren nicht zufrieden mit dem, was er von seiner monatelangen Reise mitbrachte. «Was hatten sie erwartet? – Michelangelo?», fragt sich Cole und fährt weiter: «Sie sagten, ich sei den Auftrag nicht mit Leidenschaft angegangen. – Schon möglich.»
Psychische Probleme
Es war der Beginn von Coles Niedergang, zwar fotografierte er weiterhin seine Umgebung, lebte kurzzeitig auch in Skandinavien und England, doch sein Heimweh nach Südafrika, das ihm die Rückkehr verweigerte, wurde immer stärker. Er bekam psychische Probleme, lebte zeitweise auf der Strasse, wurde einer von denen, die er früher porträtiert hatte. Zwar wurde er Ende 1986 von Rashid Lombard, einem ebenfalls exilierten Fotografen aus Südafrika, der bei der weltbekannte Agentur Magnum tätig war, ermuntert, mit ihm zusammenzuarbeiten. Doch da war Cole offensichtlich psychisch schon zu kaputt, um sich noch einmal aufzuraffen. Bald darauf wurde bei ihm eine unheilbare Krebserkrankung diagnostiziert, an der er im Februar 1990 verstarb. Es war der Monat, in dem in Südafrika die Apartheid endete.
Fazit: Ernest Cole: Lost and Found ist ein unglaublich dichter Dokumentarfilm über einen früh verglühten Stern am Himmel der Fotografie, eine kluge Reflexion über Fremdsein und den Absturz ins Nichts – und darüberhinaus ein reich befrachteter Streifzug durch fünfzig Jahre Zeitgeschichte.