Philippe Garrel ist ein meisterhafter Erzähler des Alltags. In seinem neusten Film, der auf der Berlinale im Wettbewerb lief, begibt er sich in eine Künstlerfamilie und lässt seine eigenen drei erwachsenen Kinder in den Hauptrollen brillieren. Als die letzte Generation einer Puppenspielerfamilie durchlaufen sie eine schmerzhafte Transformation und finden gleichsam zu sich selbst.
Le grand chariot
Liebe, Zusammenhalt und Tradition – «Le grand chariot» erzählt die berührende Geschichte einer Künstlerfamilie vor dem Aus.
Le grand chariot | Synopsis
Drei Geschwister sind die jüngste Generation einer Puppenspielerfamilie, die ihr Vater mit Leidenschaft anführt. Auf ihre Art sind sie Magier, können von ihrer Kunst aber kaum leben. Ein Gefühl von Berufung hält die Truppe zusammen, zu deren Fortbestehen auch die Grossmutter ihren Teil beiträgt: als Schneiderin ebenso wie als Hüterin von Erinnerungen und Weisheiten. Doch dann lässt ein tragisches Ereignis den Wunsch der Geschwister, die Familientradition fortzuführen, ins Wanken geraten …
Philippe Garrel (*1948) drehte in seiner Jugend zahlreiche Kurzfilme. 1967 führte er bei seinem ersten Spielfilm, «Marie pour mémoire», Regie. Drei Jahre später drehte er unter der Regie der Rock-Ikone Nico den berühmten Kultfilm «La Cicatrice intérieure». Er inszenierte mehr als fünfundzwanzig Spielfilme, die auf den renommiertesten internationalen Festivals gezeigt wurden. Sein neuester Film, «Le grand chariot», wurde bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 2023 im Wettbewerb uraufgeführt.
Rezension
Von Geri Krebs
«Wir sind eine Familie», begrüsst Patriarch Simon den Bühnenmaler Peter und eröffnet ihm, dass er restlos begeistert sei von ihm und seinen Künsten. Fortan dürfe er sich ganz als Familienmitglied fühlen und auch bei der Truppe wohnen. Das Puppentheater, das der Witwer Simon zusammen mit seinen Kindern Lena, Martha und Louis betreibt, scheint völlig aus der Zeit gefallen. Und doch: In «Le grand chariot» gibt es sie noch, die Kinder in der französischen Provinz, die als dankbares Publikum mit leuchtenden Augen den Abenteuern von Simons Helden in Puppenform vor einer liebevoll gestalteten Märchenlandschaft verfolgen.
Missverständnisse auf der Berlinale
Die Zeiten, in denen das Spiel mit Kasperlipuppen für Kinder ein seltenes Vergnügen voller Magie war, scheinen lange her zu sein. Garrels kleinkünstlerischer Familienkosmos erscheint dem internationalen Fachpublikum in Berlin beinahe etwas fremd oder sogar exotisch und bedurfte Erklärung. Das zeigte sich deutlich anlässlich der Pressekonferenz nach der Weltpremiere von «Le grand chariot», als die Übersetzerin konsequent von Marionetten sprach, worauf eine Anwesende intervenierte: Marionetten hingen an Fäden und würden von den Spielenden von oberhalb der Bühne her geführt, während bei Handpuppen die Spielenden unter der Bühne agieren und die Puppen mittels Zeigefinger (für den Kopf) sowie Daumen und Mittelfinger (für Arme und Hände) bewegten.
Das Schicksal schläft zu
Garrels Faszination für diese selten gewordene Theaterkunst ist durchweg spürbar und zeigt sich besonders in zwei Schlüsselszenen, in denen er verspielt und voller Elan die grosse Leinwand ganz seinen Handpuppen überlässt. Doch dann geschieht das Unglück: Simon bricht mitten in einer Vorstellung zusammen, kurz darauf verstirbt auch die leicht demente Grossmutter, die ihren erwachsenen Enkelkindern so gern von ihren rebellischen Zeiten als überzeugte Kommunistin erzählte. Die Aufgabe der drei Kinder, das Theater weiterzuführen, überfordert sie nach diesem doppelten Schicksalsschlag zunehmend, zumal noch Liebeswirren die Situation zusätzlich verkomplizieren. «Le grand chariot» ist ein bildstarker Abgesang auf eine Kunstform, die in einer Zeit, in der das Kino in der Krise steckt, ungeahnt aktuell wirkt und eine doppeldeutige Botschaft übermittelt. Altmeister Philippe Garrel hat diesen bittersüssen Reigen um verlorene Lieben und den Preis künstlerischen Lebens mit seinen eigenen Kindern besetzt, wobei Sohn Louis Garrel (L’innocent) in Frankreich mittlerweile berühmter sein dürfte als der Vater.
Fazit: Mit leichter Hand gelingt es Philippe Garrel eine traurige Geschichte um persönliche Dramen und den Niedergang einer künstlerischen Institution so raffiniert-locker und verspielt zu erzählen, wie das nur die Franzosen können.