arttv Filmjournalistin Madeleine Hirsiger im Gespräch mit dem Regisseur über seine Kindheit in Syrien, seinen dornenreichen Weg ins Filmbusiness und ein Gesamtbudget von 66 Franken für seinen ersten, in der Schweiz gedrehten Film, der immerhin für den Schweizer Filmpreis nominiert war. Natürlich ist Khalils neustes, äusserst sehenswertes Werk «Nachbarn» ebenso Thema.
Interview | Mano Khalil
- Publiziert am 4. September 2021
«Mein neuster Film ist eine Herzensangelegenheit: das Drehbuch trug ich 25 Jahren mit mir herum, wir beide lebten zusammen» Mano Khalil.
Mano Khalil, Ihr Film «Nachbarn» spielt in Syrien. Warum haben Sie nicht auch dort gedreht?
Ich hätte ihn gerne in der Gegend gedreht, in der ich aufgewachsen bin. Aber das ging nicht. Es herrschte Krieg. Also sind wir ins irakische Kurdistan gegangen und haben dort das ganze Dorf im Nichts aufgebaut: Häuser, Gärten, Felder, der Ziehbrunnen. Alles was es brauchte, um diese Geschichte erzählen zu können. Und schliesslich entsprach unser Aufbau dem Dorf, in dem ich in Syrien aufgewachsen bin. Auch das Schulhaus hat so ausgesehen wie jetzt im Film. Wir hatten ein einfaches Leben. Beispielsweise bis in die 80iger Jahre gab es keinen Strom. Trotzdem war es eine gute Zeit.
Und die Bewohner des Dorfes, die Familien im Film, entsprechen die dem Bild Ihrer Kindheit?
Ja, die meisten. Auch mein Onkel hat Ali geheissen und Sero, der Junge, der hat sehr viel von mir! Ibrahim war mein Cousin, der Schulwart, den Imam gab es auch und die Szenen mit den Soldaten an den Grenzen habe ich mehrmals genauso erlebt. Die Situation dort ist leider heute immer noch gleich. «Nachbarn» hat von meinen Filmen am meisten mit mir zu tun. Er ist sehr autobiografisch.
Wann erwachte in Ihnen die Faszination für den Film?
Die schlummerte wohl schon immer in mir. Schon früh fesselten mich die bewegten Bilder und ich ging oft ins Kino. Ich wartete jeweils, bis der Ticketverkäufer nach dem Beginn der jeweiligen Vorführung nach Hause ging. Ich gab dann dem Türsteher mein Kleingeld – im besten Fall ein Viertel des Ticketpreises. Nachdem der Film schon angefangen hatte, sagte er: «Los, geh rein». Für mich waren also alle Filme fünf bis zehn Minuten kürzer. Dann aber versank ich in die Filmgeschichte und dies war ein befreiendes Gefühl. Es war also ziemlich früh um mich geschehen!
Wie sind Sie dann in diesen Beruf eingestiegen?
In den 80iger Jahren, nach Studien der Jurisprudenz und Geschichte in Damaskus, ging ich in die Tschechoslowakei, um Regie zu studieren. Nach dem Abschluss habe ich den Film «Wo Gott schläft» gedreht. Als Kurde setzte ich mich mit der syrischen Politik auseinander, was dem Assad-Regime nicht passte. Bei der Rückreise nach Syrien wurde ich sofort verhaftet, kam aber später wieder frei. Da ich meinen Beruf in Syrien nicht ausüben konnte, weil ich unter Beobachtung stand und immer wieder bedroht wurde, flüchtete ich in die Schweiz, zuerst ins Tessin, dann nach Bern, wo ich seit über 20 Jahre mit meiner Familie wohne und Filme mache.
Wie waren Ihre Anfänge als Filmemacher in der Schweiz?
Als ich in der Schweiz ankam, war ich nur eine Nummer und es war nicht ans Filmemachen zu denken. Trotzdem gab ich nicht auf. Mit einfachen technischen Mitteln drehte ich meinen ersten Film «Triumph of Iron». Das gesamte Filmbudget betrug 66 Franken. Der Film erhielt 2000 den Anerkennungspreis an den Solothurner Filmtagen und wurde für den Schweizer Filmpreis nominiert. «Triumph of Iron» wurde auch im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt. Das hat mich sehr ermutigt weiterzumachen.
Und was bedeutet Bern für Sie?
Bern ist wichtig für mich, ich fühle mich gut hier, aber mein Dasein in dieser Stadt ist nur ein Teil meines Lebens, ein Stück „Nomaden Heimat“. Ich weiss nicht, was mich in Zukunft noch erwartet, wo es mich hinführt. Wichtig ist für mich, dass ich weiter Filme machen kann, denn das Filmschaffen ist mein Leben, meine Leidenschaft. Meine Themen haben eng mit mir zu tun, ich muss mich identifizieren können, ich muss wissen, von was ich rede.
Sie erweisen Bern in Ihren Filmen ja auch immer wieder Referenz.
Ja, der Spielfilm «Die Schwalbe» beginnt in Bern, wo eine junge Frau nach Kurdistan aufbricht, um ihren unbekannten Vater zu suchen. Per Zufall hatte sie durch Briefe, die sie auf dem Estrich gefunden hatte, von ihm erfahren. Und in «Nachbarn» gelingt der jungen jüdischen Frau Hannah die Flucht in den Westen, nach Bern. Sie schickt eine Postkarte in ihre Heimat, auf der das Berner Münster abgebildet ist. Auch den Dokumentarfilm «Unser Garten Eden» habe ich in der Nähe von Bern gedreht. Hier geht es ebenso um Identität und wie Leute aus verschiedenen Ländern in einem Schrebergarten miteinander umgehen, wie sie zurecht kommen.
Wir erleben jetzt gerade eine weitere humanitäre und politische Katastrophe: Afghanistan. Was geht in Ihnen vor?
Die Welt ist dabei, in dunkle Tiefen abzudriften. Der Westen hat aufgegeben. Die Menschen dort sind sich selbst überlassen, in einem Klima von Menschenverachtung, Demütigungen und Terror, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die zivilisierte Welt verschränkt die Arme und schaut zu und sagt sich: macht doch, was ihr wollt. So lassen wir im Jahr 2021 Zustände herrschen, die den dunkelsten Zeiten im Mittelalter ähneln. Dabei geht es uns alle an, was in Afghanistan passiert: Abgesehen von den Flüchtlingsströmen, die bald auch Europa erreichen werden: wo sind unsere Werte für Solidarität, Menschenrechte und Freiheit?
Kommen wir nochmals auf ihren neusten Film zurück. Wie haben Sie die Reaktionen auf «Nachbarn» erlebt?
Überall, wo der Film gezeigt wird, sind die Reaktionen positiv. Ich freue mich sehr darüber. Den Auftakt der Vorführungen machte übrigens das Filmfestival in Schanghai. Leider konnte ich wegen Corona nicht anwesend sein. Mittlerweile ist «Nachbarn» an 30 Festivals eingeladen: Europa, Asien und die arabischen Länder wollen den Film in ihre Programme aufnehmen. Er hat übrigens gerade den renommierten «San Francisco Bay Area Film Critics Award 2021» gewonnen. Das ist natürlich eine grosse Genugtuung und Bestätigung für mich und für alle Beteiligten. Dieser Film ist eine Herzensangelegenheit: das Drehbuch trug ich 25 Jahren mit mir herum, wir lebten zusammen. Aber die Situation hat sich auch immer wieder verändert, es kam nie zur Realisierung des Projektes. Nun ist der Film da und es ist Ruhe eingekehrt.
Das Gespräch führte Madeleine Hirsiger