Die Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren hat sich in ihrer Arbeit immer wieder mit Identität, Körper und Gender auseinandergesetzt und diese Themen auch in ihrem neuesten Film aufgegriffen. Im Interview erzählt sie, welche Bedeutung die Biene in der baskischen Tradition hat und wieso es ihr wichtig war, die Mutter-Tochter-Beziehung in ihrem Drama gleichwertig zu behandeln.
Interview Estibaliz Urresola Solaguren | 20'000 ESPECIES DE ABEJAS
- Publiziert am 19. September 2023
«Oft wird so getan, als hätten Transkinder ein Problem mit der Gesellschaft, dabei ist es vielmehr die Gesellschaft, die ein Problem mit ihnen hat.»
Estibaliz Urresola Solaguren hat einen Abschluss in Audiovisueller Kommunikation (UPV- Bilbao), Schnitttheorie (EICTV Cuba) und einen Master in Filmregie und Film-Betriebswirtschaft (ESCAC). Sie führte Regie bei den Kurzfilmen «Adri» und «Polvo somos» sowie bei dem Dokumentarfilm «Voces de Papel», der in San Sebastián uraufgeführt wurde. Ihr neuester Kurzfilm «Cuerdas» wurde auf der Semaine de la Critique in Cannes aufgeführt und hat mehrere nationale und internationale Preise gewonnen, darunter den Preis für den besten Kurzfilm bei den Forqué Awards. Im Februar 2023 wurde ihr erster Spielfilm «20’000 especies de abejas» in der offiziellen Auswahl der Berlinale aufgeführt und mit dem Silbernen Bären für die beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle für Sofía Oteros Darstellung von Cocó ausgezeichnet.
20’000 especies de abejas | Synopsis
Cocó ist acht Jahre alt und möchte nicht mehr mit dem Geburtsnamen Aitor angesprochen werden. Aber im Sommerurlaub bei der Familie im Baskenland wird ihr Wunsch von fast allen ignoriert, insbesondere von der traditionellen Grossmutter. Ihre Mutter Ane versucht trotz eigenen Herausforderungen für ihr Kind da zu sein, aber nur bei der Grosstante, die als Bienenzüchterin unbeirrbar ihren Weg geht, stösst Cocó wirklich auf Verständnis. So findet sie das nötige Selbstvertrauen, um für ihre eigene Identität und deren Akzeptanz einzustehen.
Estibaliz Urresola Solaguren im Interview
Von Doris Senn
Estibaliz Urresola Solaguren, mit Ihrem Debütspielfilm schafften Sie es auf Anhieb in den Wettbewerb der Berlinale. Er handelt von (Trans-)Identität und spielt im spanischen Baskenland, Ihrer Heimat. Wie verhält sich der Titel (dt.: 20’000 Bienenarten) zum Thema des Films?
Bienen stehen für Diversität in der Natur und sie sind als Spezies sehr verschieden: Einige leben in Gruppen, andere sind solitär. Einige produzieren Honig und andere haben andere Aufgaben. Vor allem aber habe ich entdeckt, dass Bienen in der baskischen Tradition heilig sind: Alles, was in der Familie passiert, wird ihnen mitgeteilt – wenn jemand stirbt oder geboren wird. Auch spricht man sie mit Respekt an. Sie scheinen von alters her mit Transzendenz verbunden. So entstand die Figur der Bienenzüchterin, der Grosstante von Cocó. Und so entstand auch die Szene mit Cocó, die den Bienen gegen Ende des Plots mit einem Klopfen ans Bienenhaus ihren neuen Namen, Lucía, mitteilt. Übrigens ging der königliche Imker von Queen Elizabeth nach ihrem Tod als Erstes zu den Bienen, um sie zu informieren – eine jahrhundertealte Tradition in England.
Ihr Film zieht einen von Anfang an in emotionale Konflikte hinein: eine Ehe in Schieflage, eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung und ein Dorf, in dem viel getratscht wird. Wie kam es zu dieser turbulenten Komplexität an Beziehungen?
Ich führte sehr viele Gespräche mit Familien, die ihre Trans-Kids begleiten, und entdeckte eine interessante Gemeinsamkeit: Es waren nicht die Kinder, die eine Transition durchmachten, sondern vielmehr deren Familien. Insbesondere veränderte sich ihr Blick auf die Kinder. Oft wird so getan, als ob Transkinder ein Problem mit der Gesellschaft hätten, dabei ist es vielmehr die Gesellschaft, die ein Problem mit ihnen hat. Gleichzeitig konnte ich so das Thema Identität vertiefen, das mich bereits in früheren Kurzfilmen beschäftigte. Was ist Identität genau? Ist es ein ganz persönliches Verständnis davon, wer du bist, oder ist es etwas, das durch den Blick von aussen entsteht? Oder beides zugleich? Die Figur Lucías gibt den Personen um sich herum nicht zuletzt eine Möglichkeit, sich selbst und ihre Beziehungen untereinander zu hinterfragen. Das trifft besonders auf Ane zu, Lucías Mutter: Sie ist selbst auf der Suche nach ihrer Identität und einem Leben, das in Kohärenz dazu steht.
Wie war die Arbeit mit Ihrer Kamerafrau, Gina Ferrer García? Was für eine Ästhetik sollte der Film haben?
Ich wollte eine möglichst naturalistische Herangehensweise. Die Zuschauer:innen sollten das Gefühl erhalten, Teil der Familie zu sein. Es sollte natürliches Licht geben und Handkamera, kein Stativ oder Steadycam. Man sollte den Puls der Szene spüren. Nicht zuletzt wollte ich mit den Kindern in einem kontrollierten, aber nicht geschlossenen Setting arbeiten, was natürlich auch für das Production Design eine Herausforderung darstellte, weil über den Bildausschnitt hinaus die Szenerie «bereit» sein musste. Es gab nur eine Kamera – und Gina entschied sich für Weitwinkel, 30 oder 40 Millimeter, was ermöglichte, dass in der gleichen Einstellung verschiedene Figuren anwesend sind. Die Zuschauer:innen sehen zum einen wie das, was im Hintergrund passiert, Figuren im Vordergrund beeinflussen kann, und zum andern entscheiden sie selbst, wem ihre Aufmerksamkeit gilt.
Die grossartige Sofía Otero, die Cocó spielt, erhielt an der Berlinale einen Preis für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle – mit ihren acht Jahren als jüngste je ausgezeichnete Schauspieler:in. Etwas polemisch gefragt: Kann ein Kind in diesem Alter wirklich schauspielern – oder unter kundiger Anleitung einzig sich selbst sein?
Wer Sofía als Person kennt, weiss, dass sie einen ganz und gar anderen Charakter hat als ihre Figur Cocó. In der Realität ist Sofía extrovertiert, ausgelassen, lebenslustig. Sie war bei der allerersten Cast-Session mit dabei und wir gaben ihr zuerst eine ganz andere Rolle im Film. Nachdem wir aber mehr als 500 Kids gesehen hatten, ohne fündig zu werden, machten wir eine zweite Session, um Cocó zu besetzen. Und da sah ich erst das vielfältige Register an Emotionen, das Sofía fähig war zu spielen.
Waren andere Filme zum Thema Trans für Sie eine Referenz? Etwa «Tomboy» (2011) von Céline Sciamma oder «Petite Fille» (2020) von Sébastien Liefshitz?
Natürlich musste ich beim Schreiben des Drehbuchs wissen, was es bereits zum Thema gab. Dazu gehören «Tomboy», aber auch der noch ältere «Ma vie en rose» (1997) von Alain Berliner. Der grösste Unterschied im Vergleich zu meinem Film ist, dass «Tomboy» ganz auf die Hauptfigur fokussiert und das Ende eher traurig ist. In andern liegt der Fokus ganz auf den Eltern, während das Kind kaum in Erscheinung tritt. Im Unterschied dazu wollte ich, dass mein Film die Beziehung zwischen Mutter und Kind ins Zentrum stellt und zeigt, wie sich diese verändert – bis zu dem Punkt, dass die Mutter ihr Kind als Sofía sieht und akzeptiert. Ab einem gewissen Punkt war ich dann vermehrt an Filmen interessiert, die zwei Blickpunkte zuliessen – etwa Lucrecia Martel und «La niña santa» (2004) sowie andere Filme mit zwei Hauptfiguren. In meinen Script-Labs wurde ich immer wieder gefragt, wer denn die Protagonist:in in meinem Film sei – und ich antwortete: Mutter und Tochter, beide gleich. Und man sagte mir: Unmöglich! Es kann nur eine Hauptfigur geben! «20’000 especies de abejas» sollte aber genau zeigen, dass es möglich ist, zwei Protagonist:innen zu inszenieren.
Für Cocó/Lucía gibt es ein Happy End, aber ihre Mutter Ane bekommt ihr Leben noch nicht auf die Reihe. Stimmen Sie dem zu?
Nein. Ich glaube, dass es auch für Ane eine Art Happy End gibt, auch wenn der Plot in einer Art Gegenbewegung funktioniert: Je mehr Lucía weiss, wer sie ist, umso unsicherer wird Ane. Ihre Kommunikation mit der Welt funktioniert über ihr künstlerisches Schaffen, das sie vernachlässigt hat. Aber sie schafft es das zu wenden, setzt sich und ihre Kunst an die erste Stelle.
Ane ist im Schatten ihres renommierten Künstlervaters grossgeworden, seine Skulpturen sind wichtige Symbolträger im Film. Wie stehen diese zum Thema Identität?
Wenn man über Gender, Identität und Repräsentation spricht, spielte der männliche Blick bislang eine eminent wichtige Rolle – insbesondere in Bezug auf die Frauen. Der abwesende und doch sehr präsente Grossvater repräsentiert für mich diesen patriarchalen Blick. Die kleine Lucía setzt sein Atelier in Brand, was nicht zuletzt ein symbolischer Akt ist und der Versuch, dieses Erbe und diese Art der Darstellung zu zerstören. So will sie die angestammte Geschlechterordnung neu definieren.