Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich
Künstler oder öffentliches Ärgernis?
Diese Frage provoziert Harald Naegeli, seit er 1977 seine erste Strichfigurenzeichnung an eine öffentliche Mauer sprayte. Während die Staatsanwaltschaft dem Sprayer von Zürich 1983 mit internationalem Haftbefehl auf den Fersen war, ist er für viele andere ein Pionier der Street Art. Heute, mit über 80 Jahren, ist er aus dem Düsseldorfer Exil nach Jahrzehnten in seine Heimat zurückgekehrt, wo er seine Hassliebe mit der Stadt Zürich wieder aufleben lässt.
«Naegeli schätze ich als Künstler, aber nicht als einen traditionellen Künstler, sondern als einen Künstler, der sich für die menschheitlichen Fragen interessiert. Also steht er jenseits von moderner Kunst. Was er macht, ist eine anthropologische Kunst, eine soziale Kunst. Dass gerade die mit Gefängnis bestraft wird, finden wir sehr, sehr… Ja, wir finden es kriminell.» Joseph Beuys
Synopsis: Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich
Seine Graffiti sind minimalistisch, doch von ästhetischer Wucht. Die wenigen, gezielt gesetzten Linien verdichten sich zur mehrdimensionalen Bedeutung und erfassen das Dargestellte im Kern. Der Schweizer Künstler Harald Naegeli wurde Ende der 1970er-Jahre als «Sprayer von Zürich» weltweit bekannt. Er kritisierte mit seinen Graffiti das monotone, unwirtliche Stadtbild Zürichs, aber auch die Politik und den Umgang mit der Umwelt. Verurteilt wegen mehrfacher Sachbeschädigung, setzte Naegeli sich nach Deutschland ab, worauf ein internationaler Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde. Bei seiner Rückkehr in die Schweiz musste er deshalb eine sechsmonatige Gefängnisstrafe absitzen. Danach lebte und arbeitete er hauptsächlich in Düsseldorf. Er begann als «Harry Wolke» an die «Freunde der Wolke» philosophische und rebellische Nachrichten über seine neuesten Graffiti und Zeichnungen zu schreiben, um seine flüchtige Kunst, seine Utopien, etwas länger festzuhalten. 2020 wieder in Zürich sprayte er während des ersten Covid-19-Lockdowns über 50 «Totentänze» in der Stadt. Der Kanton verklagte ihn, die Stadt verlieh ihm den Grossen Kunstpreis.
Stimmen zu: Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich
«Eine unterhaltsame Auseinandersetzung mit dem kontrovers diskutierten, vielseitigen und äusserst charismatischen Schweizer Künstler.» ZFF | «Die Regisseurin Nathalie David zeigt in ihrem feinfühligen Portrait Harald Naegelis facettenreiche Persönlichkeit – als visionären, streitbaren Künstler, Rebellen, Philosophen und scharfsinnigen, humorvollen Menschen, der mit seiner Kunst seit jeher die einen empörte und die anderen erfreute. Der Film ist Naegelis Testament und eine Hommage an den Utopisten.» Filmcoopi
Interview mit der Regisseurin Nathalie David
Wie sind Sie an «Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich» herangegangen? Wie unterscheidet sich diese Herangehensweise von Film zu Film?
Die Herangehensweise von Film zu Film ist immer die Gleiche. Ich lese alles, was es zu lesen gibt und stelle Verbindungen her. Ich bevorzuge autobiographische Elemente und schaue mir die Arbeit meiner Protagonist*innen genau an. Dabei begleiten mich die Fragen «Was wollen sie sagen, was ist ihre Intention, was ist daran wichtig für die Kunst, für das Leben?» Die Ästhetik des Films ändert sich jedes Mal, sie dialogisiert mit ihrem Sujet, ihren Künstler*innen. Sie nähert sich der Ästhetik des Objekts, der Kunst, dem Sujet an. Das Konzept ist das, was mich interessiert. Die Ästhetik entwickelt sich daraus automatisch. Ich bin als Filmerin und Künstlerin immer wieder mit einer neuen Ästhetik konfrontiert und das ist das Schöne dabei, weil es Fenster öffnet, um weiter zu denken. Ich möchte meinem Sujet gerecht werden, meinen Respekt zeigen. Es muss Vertrauen zwischen der*dem Protagonist*in und mir, der Filmerin, aufgebaut werden. Ich wollte intime Einblicke geben, aber es darf nichts Privates erzählt werden. Kein Scoop. Das interessiert mich nicht.
Der Film erzählt uns zu Beginn, dass Naegeli an keinem Filmprojekt mehr teilnehmen möchte und sich dann doch zu einem Interview bereiterklärt – nach einem Brief von Ihnen an ihn, von Künstlerin zu Künstler. Aus diesem Gespräch ist «Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich» entstanden.
Nach seiner Absage nahm Naegeli meine E-Mail-Adresse in seinen Verteiler auf. Ich bekam darüber sehr starke Texte und Bilder. Eines Tages schrieb er, dass er nicht schlafen könne, weil er solche Schmerzen im Bauch hatte und so erschuf er in dieser Nacht Zeichnungen aus der Apokalyptischen Serie.
Sonntag, 27. Januar 2019 um 16:05
Betreff: Endloser Tanz ins Leben und in den Tod
Liebe Freundinnen und Freunde,
heute von 02 .00 früh bis 07.00 Uhr rüttelte der Tod mächtig an meinem Gedärm und Knochen. In Erinnerung an seine Knochenmusik habe ich ihm eine schöne Hommage gezeichnet. Natürlich ist diese Hommage eine List, wenn nicht eine unschuldige Bestechung des Künstlers!
Der Tod soll bezaubert werden, sein Handwerk um der Utopie und Kunst willen um eine Galgenfrist zurückzuhalten. Das ist Menschenart die auch der Tod respektiert!
Herzlich Grüsse, euer alter Wolkenjäger HN
Ich war beeindruckt von der Kraft der Bilder und von seinen Worten. Gleichzeitig war ich sehr berührt, weil ich jemanden sah, der mit dem Tod kämpfte. Ich habe mir erlaubt, ihm noch einmal zu schreiben – ihm, dem Utopisten. «Wir wollen eine Hommage machen – an die 11 Utopie», schrieb ich zurück. Und hier war mir klar: Wenn wir einen Film machen, dann möchte ich mit dieser E-Mail-Korrespondenz arbeiten. Und da hat er eingewilligt.
Wie war Ihre weitere Zusammenarbeit mit Naegeli?
In seinem Atelier in Düsseldorf besuchte ich ihn immer allein, von März bis Mai 2019, jeweils für drei Tage. Und wirklich nur, um für ein paar Stunden zu drehen. Zuerst haben wir uns gegenseitig gezeichnet. Das ist zum Ritual geworden. Wir konnten Vertrauen aufbauen. Weil ich mich in der Kunstgeschichte auskenne, haben wir sehr viel über andere Künstler*innen gesprochen, damit hat der Film schon begonnen… Ich hatte immer sehr konkrete Fragen, das hat ihm gefallen. Irgendwann war dann klar: Wir machen einen Film zusammen.
Er liess mich allein in seinem Atelier und ich hatte Zeit als Filmerin, alle Details in seinem Atelier, später in seiner Wohnung in Zürich, aufzunehmen, um die Kunst nachzuempfinden. Naegeli ist ein sehr lustiger und grosszügiger Mensch. Er trägt eine Leichtigkeit in sich und ist sehr zugänglich, wenn er es möchte. Das sollte der Film transportieren. Gleichzeitig war es mir wichtig, die Momente drin zu haben, in denen er nicht mehr gefilmt werden möchte, müde ist, Tee macht oder Schokolade isst, in denen er richtig sauer wird und uns rausschmeisst – aber immer mit Eleganz! Die Nähe zwischen ihm als Protagonisten und mir als Filmerin in dem Film sollte erklärt werden, ich musste Präsenz zeigen, wollte aber nicht direkt Teil des Films sein. Und weil er immer zeichnet, wenn Menschen ihm begegnen, bin ich jetzt über seine Zeichnung von mir in dem Film zu sehen.
Was war die Herausforderung an diesem Film?
Mit jemandem zu arbeiten, der bald sterben wird. Naegeli ist ein lebender Künstler, aber er ist schon 81, mit fortgeschrittenem Krebs, was für mich als Mensch und als Filmerin natürlich nicht einfach ist. Man ist immer mit dem Tod konfrontiert. Als ich ihn zum ersten Mal traf, da dachte er, er hätte noch drei Monate zu leben. Das gab mir den Druck, so schnell zu filmen wie möglich und doch sensibel mit dem Protagonisten zu sein. Wir wussten, wir hatten nicht viel Zeit. Die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein hat uns schnell eine Förderung gegeben für die Materialsicherung. Das war toll. Ausserdem war es eine Herausforderung alles zusammenzubringen: Naegeli ist nicht nur ein Sprayer, wie viele denken, er ist vor allem ein Künstler, der auf Papier genauso wie auf der Wand arbeitet.
Was fasziniert Sie persönlich an Naegelis Arbeit und wieviel davon beeinflusst den Film?
Die verschiedenen Stränge seiner Kunst, die trotzdem verbunden sind, gefallen mir. Nur durch die tausend Zeichnungen kann er so perfekt den Strich auf den «Träger» (Wand) bringen. Naegeli ist emanzipiert. Das finde ich beeindruckend. Der politische Aspekt in seiner Arbeit fasziniert mich. Er ist ein Rebell, genau wie seine Mutter, vor der er wahnsinnig grossen Respekt hat. Ich führe das im Film weiter. Ich rebelliere in der Sprache des Films. Die Typografie, der direkte Schnitt, das Voice-over… Es macht mich richtig nachdenklich und wütend, dass ein Mensch für seine Kunst ins Hochsicherheitsgefängnis gekommen ist und das in der Schweiz – das möchte ich subtil an die Zuschauer*innen weitergeben.
Naegeli sagt: «Ohne Widerstand, ohne Opposition, wäre die Kunst belanglos. Es wäre einfach nur eine affirmative Konsumangelegenheit und keine geistige Auseinandersetzung mit dem Leben.» Ist Ihr Film politisch?
Dem stimme ich zu. Naegelis Kunst war 1979 avantgardistisch, sie fällt aus ihrer Zeit. Abgesehen vom Kunstmilieu hat niemand verstanden, was die Strichfiguren sein sollten. «Sachbeschädigung», es ist immer dasselbe Wort. Heute ist seine Kunst noch umstritten, aber sie wird mehr und mehr anerkannt. 40 Jahre Widerstand – und es geht immer noch weiter. Der Film nährt sich vom Konzept des Künstlers. Er wird politisch durch die Naegeli- Statements. Der Film ist ein Rebell in sich. Es wird Leute geben, die den Film nicht verstehen. Aber es wird Leute geben, die das rebellische Sein sehen werden. Wir leben grade in einer Umbruchszeit. Da ist die Kunst das beste Mittel. Wie Naegeli es im Film über Covid-19 sagt: «Mein Totentanz läutet die globale Katastrophe, die erst noch kommt, ein. Die Übel, die wir kennen, sind nennbar. Die noch kommen, unbekannt. Es gilt den Barbaren, der immer wieder aufsteht, in Schranken zu halten! Die Kunst ist dabei das beste Mittel!»
«Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich» zeichnet ein sensibles Portrait des rebellischen Künstlers. Was wünschen Sie sich für den Film?
Ich wünsche mir, dass Naegeli als Künstler gesehen wird, dass man ihn wahrnimmt, dass die Zuschauer*innen sensibilisiert werden und ein Verständnis entwickeln. Wenn sie aus dem Film rausgehen und sagen «Ich mag immer noch nicht, was er macht, aber ich verstehe, wo er hinwill» – dann haben wir etwas gewonnen. Der Film soll anregen, zur Diskussion und zum Denken. Es geht darum, die verschiedenen Gattungen in seiner Kunst als Gesamtkunstwerk wahrzunehmen. Ich wünsche mir, dass der Film inspiriert, dass Graffiti die Stadt neu belebt, dass die Stadt Graffiti neu belebt.
Interview: Aisha Mia Lethen Bird (zVg, gekürzt)