Ein Mann sucht das Weite, findet sein Alter Ego und Schicksal in Afrika. Die Begegnungen mit Aktivisten in Nigeria verändern sein Leben. Eine hypnotische Reise, von der Oder in die Finsternis Afrikas bis zur Pariser Szene. Erfindungsreich und unkonventionell inszeniert von Giacomo Abbruzzese.
Disco Boy
Disco Boy | Synopsis
Aleksei ist zu allem bereit, um aus Weissrussland zu fliehen. Er reist nach Paris und meldet sich bei der Fremdenlegion. Er wird in den Kampf im Nigerdelta geschickt, wo der junge Revolutionär Jomo gegen die Ölgesellschaften kämpft, die sein Dorf verwüstet haben. Während Aleksei in der Legion eine neue Familie sucht, stellt sich Jomo vor, Tänzer zu werden, ein Disco Boy. Im Dschungel werden sich ihre Träume und Schicksale kreuzen …
Disco Boy | Andere Stimmen
«Eine magische Träumerei, begleitet vom kraftvollen Soundtrack des Elektromusikers Vitalic, der den Nachtclub in einen Ort der Transzendenz verwandelt. Körper fallen in Trancezustände, die einerseits enthüllend sind, andererseits aber auch eine Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu treten. Die Disco als Sehnsuchtsort für alle, die den Blick fest auf den heiligen Horizont von Utopia gerichtet haben.» – arttv.ch | «Tanzen gegen Tod und Traumata – in seiner Message bleibt „Disco Boy“ doch recht einfach, hat dafür aber dramaturgisch wie inszenatorisch erfreulich viel zu
bieten. Zudem ist uns jeder Anlass, Franz Rogowski auf der Leinwand tanzen zu sehen, ohnehin herzlich willkommen.» – Christoph Petersen, filmstarts.de | «Gerade die vielen Anklänge ans Genre-Kino geben Disco Boy etwas Verführerisches; der Exotismus, der Legionärsmythos vom Neuanfang, die Erkenntnis, dass man nur seine äussere Identität ablegen kann, aber nicht sich selber erneuern: Das alles ist auf eigenartig zwiespältige Art attraktiv.» – Michael Sennhauser, sennhausersfilmblog.ch | «Halluziniert, mystisch, destabilisierend, auf Amphetaminen, dynamisiert durch den Soundtrack aus der Feder des Franzosen Vitalic, wird «Disco Boy» von Krieg, Techno und Geistern heimgesucht. Mit ihm ist ein junger Filmemacher geboren». – Le Parisien | «Inbrünstig, exaltiert und poetisch: «Disco Boy» erfindet den Kriegsfilm neu. Giacomo Abbruzzese ist der Regisseur der Stunde, den man unbedingt im Auge behalten sollte.» – aVoir-aLire | «Der Film tendiert gegen Ende immer mehr zur Abstraktion, um die Zuschauer:innen in ein ebenso prächtiges wie betörendes visuelles und akustisches Abenteuer zu entführen, in dem der Tanz, untermalt von beschwörender Technomusik von Vitalic, Unterschiede überwindet.»- Le Journal du Dimanche
Rezension
Von Rolf Breiner
Am Anfang steht eine Flucht, die ins Herz der Finsternis und ein Mysterium führt. Es geht um Ausbeutung (wie im Roman Joseph Conrads). Doch der Schauplatz ist nicht der Dschungel Vietnams wie in Francis Ford Coppolas Kriegsdrama, sondern Afrika wie bei Conrad. Ein Flüchtling aus Weissrussland wird zum Fremdenlegionär und begegnet während eines Einsatzes in Nigeria einem schwarzen Aktivisten und seiner Schwester. Eine magische Konfrontation in drei Akten.
Abenteuer Fremdenlegion
Es bleibt unklar, weshalb Alex (Franz Rogowski) seine Heimat fluchtartig verlässt – zusammen mit einem Freund Michael. Sie verlieren sich bei einer Flussüberquerung, der Kumpan ertrinkt. Alex sucht sein Heil in der französischen Fremdenlegion. Nach fünf Jahren Dienst in der Eliteeinheit, erhält der Legionär die französische Staatsbürgerschaft. Drill in Frankreich, Einsatz dann in Afrika. Legionär Alex und seine Einheit sollen
eine Guerillatruppe im Nigerdelta aufspüren, die französische Angehörige einer Ölgesellschaft entführt haben. Alex wird mit Krieg, Gewalt und Jomo (Morr Ndiaye) konfrontiert, dem Anführer einer Guerillagruppe. Diese paramilitärischen Kämpfer versuchten Ausbeutung und Raubbau, sprich Ölproduktion, in der Nigerregion zu stoppen, welche die Existenz der Einheimischen zerstört.
Söldner und Rebellen
Entführungen, Sabotage, Diebstahl: Durch ihre Aktionen gelang es den MEND-Kämpfern (Movement for the Emancipation of the Niger Delta) zwischen 2006 und 2007 tatsächlich, die Ölproduktion Nigerias um 33 Prozent zu senken. In der Fiktion gehört diesen Rebellen auch Jomos Schwester Udoka (Laëtitia Kvy) an, die wie ihr Bruder verschiedene Augenfarben besitzt. Söldner und Dschungelrebellen verkrallen sich. Wer ist Opfer, wer Täter? Alex tötet Jomo im Zweikampf und wird ihn jedoch wie dessen Schwester nicht mehr vergessen. Beide haben sich bei Alex eingebrannt. Der Krieg und diese Begegnungen haben ihn verändert, verfolgen ihn, beseelen ihn auch. Im dritten Teil des Films «Rückkehr» (nach «Das Abenteuer» und «Der Krieg») wird er zum alten Ego von Jomo, der von einem Leben als Disco Boy träumt.
Magischer Sog
Der realistische wie bizarre und mythische Spielfilm des Italieners Giacomo Abbruzzese, der sich bisher vor allem durch Kurzfilme und mittellange Spielfilme profilierte, entwickelt einen magischen, halluzinatorischen Sog – dank den Bildern Hélène Louvarts. Sie wurde für ihre Kameraarbeit in Berlin 2023 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Abbruzzese taucht ins Nigerdelta, um Tücken, Hintergründe und Gnadenlosigkeit des Krieges zu zeigen. Er konfrontiert zwei gleichwertige Gegner (auch im Sinne von Würde und Empathie) und verdichtet Schicksale zu einer Vision, einem Überbild. Sein elektrisierender Spielfilm über Fremdheit, Feindschaft und Vertrautheit illustriert, dokumentiert die Kraft des Kinos. Dabei wird die Reise durch die Dunkelheit ins visionäre Licht von drei Flüssen markiert: der Oder (Flucht), dem Niger (Krieg) und der Seine (Rückkehr). Realität und Metapher durchdringen sich – sie verschmelzen. Die Hauptdarsteller, der Deutsche Franz Rogowski (Alex), Morr Ndiaye (Jomo) und Laëtitia
Ky (Udoka) von der Elfenbeinküste, prägen den Film und faszinieren.
Fazit: «Disco Boy» – der Titel täuscht. Denn Schauplatz ist keine Disco, sondern der Dschungel des Nigerdelta. Hier treffen ein Söldner aus Weissrussland und ein schwarzer Guerillakämpfer aufeinander. Das Drama gleicht einer magischen Reise von der Oder in die Finsternis Afrikas bis zur Pariser Szene. Zwei Fremde und Feinde vermischen und werden eins. Am Ende wird ein Disco-Traum wahr – mit vertauschten Rollen. Magisch.