Es müssen nicht immer rasende Maschinen und Roboter, Action und geballte Kraft sein, um die Leinwand erbeben zu lassen. Manchmal reicht ein lebendiger Naturschauplatz, eine 210 Jahre alte Eiche etwa. Bei diesem urtümlichen Baum geht es zu wie in einer Mietskaserne. Käfer, Eichhörnchen oder Ameisen kommen und gehen. Mäuse finden ebenso Unterschlupf wie Eichelhäher. Produzent/Regisseur Michel Seydoux und Kameramann Laurent Charbonnier stellen diesen «Lebensbaum» ins Zentrum ihres Dokumentarfilms.
Die Eiche - mein Zuhause
Die Eiche – mein Zuhause | Synopsis
Es war einmal die Geschichte einer 210 Jahre alten Eiche, die zu einer Säule in ihrem Königreich wurde. Dieser spektakuläre Abenteuerfilm versammelt eine aussergewöhnliche Besetzung: Eichhörnchen, Eichelhäher, Ameisen, Feldmäuse … diese vibrierende, summende und wunderbare kleine Welt besiegelt ihr Schicksal um diesen majestätischen Baum, der sie aufnimmt, ernährt und von seinen Wurzeln bis zur Spitze schützt. Eine poetische Ode an das Leben, in der die Natur allein zum Ausdruck kommt.
«Für manche Menschen ist ein Baum etwas so unglaublich Schönes, dass es einem die Tränen in die Augen treibt. Für andere ist es nur ein grünes Ding, das im Weg steht.»
William Blake
Der anerkannte und vielfach preisgekrönte Tierfilmspezialist Laurent Charbonnier (Produktion, Buch und Regie)wandte sich nach seinen Anfängen als Fotograf schon früh dem bewegten Bild zu. Als Produzent, Regisseur oder Kameramann hat er in über 30 Jahren mehr als 60 Dokumentarfilme gedreht und war auch an den Dreharbeiten zu einigen Spielfilmen beteiligt. Als Kameramann übernahm er u.a. an dem visuell bahnbrechenden Naturfilm «Nomaden der Lüfte» (2001) die Bildgestaltung. Sein Film «Les Animals in Love» war für einen César als bester Dokumentarfilm nominiert.
Michel Seydoux (Buch und Regie) ist einer der bekanntesten französischen Filmproduzenten. Er begann seine Karriere als Assistent des Präsidenten der Zentralen Organisation für Jugendlager und – Aktivitäten
in Frankreich (OCCAJ) von 1968 bis 1970. 1971 gründete er die Spielfilmproduktionsgesellschaft Caméra One, deren Inhaber er ist. Er war ausserdem Mitglied des Aufsichtsrats von Gaumont und Mitglied des Vorstands von Pathé. Er hat zahlreiche Filme produziert oder koproduziert. Zu seinen bekanntesten Filmen als Produzent zählen u.a. «Birnenkuchen und Lavendel» (2015), «Cyrano de Bergerac» (1990) und «Urga» (1991). «Die Eiche – mein Zuhause» ist sein Debüt als Regisseur.
Rezension
Von Rolf Breiner
Man nehme einen mächtigen ausladenden Baum und lege sich auf die Lauer. Das haben Kameramann Laurent Charbonnier, Produzent und Regisseur Michel Seydoux gemacht. Nicht einmal, sondern x-mal über Jahre verteilt – mit Akribie und Ausdauer.
Auf der Lauer
Irgendwo in Frankreich an einem See steht dieser knorrige, weit verzweigte Baumriese, der gut 210 Jahre auf dem Buckel beziehungsweise auf der Rinde hat. Im Spätsommer toben Eichhörnchen herum, kuscheln Feldmäuse im Verborgenen und zimmert ein Buntspecht. Die wuchtige Eiche dient als Mietshaus für diverse Tiere und Käfer. Rehe schauen vorbei, Wildschweine reiben sich genüsslich an der Baumrinde. Blaumeisen beobachten das Treiben und denken sich ihren Teil. Sogar eine Natter schlängelt sich den Ästen entlang. Sie lauert, hat eine Beute im Visier. Doch das vermeintliche Opfer entkommt. Aufatmen. Das unerbittliche Naturgesetz vom Fressen und Gefressenwerden wollen die Filmer nicht dokumentieren, sondern einen friedlichen Lebensraum sprich Lebensbaum für Pflanzen (Pilze), Insekten und allerlei anderes Getier.
Flutalarm
Gleichwohl geht es bisweilen spannend zu wie in einem Action- oder Katastrophenfilm. Ein Gewitter zieht auf. Die Himmelsschleusen öffnen sich. Es regnet in Strömen. Die ganze Mäusebande sucht Zuflucht im verzweigten Bau unter dem Baum. Wasser strömt heran. Rette sich, wer kann! Ein andermal ist ein Habicht auf Jagd nach einem Eichelhäher und rast durchs Gehölz wie Flugkörper in einem SF-Streifen. Unglaublich, wie sich die Kamera an die Flügel des rasenden Jägers heftet. Es gibt Beobachter wie eine Schleiereule oder das vife Meisenpärchen, Akteure, stille Sprösslinge und Bewohner.
Bilder ohne Worte
Tierfilmspezialist Laurent Charbonnier («Animals in Love», 2008) «taucht» auch in den Untergrund, zeigt trickreich Wurzelverästelungen wie Blutbahnen auf Röntgenbildern. Die Jahreszeiten wechseln. Die einen halten Winterschlaf, andere sammeln fleissig Nahrung. Die Eichhörnchen bilden quasi den roten Faden, sind durchweg im Bild. Und das alles ohne schulmeisterlichen Kommentar. Die Bilder sprechen für sich. Bei Gelegenheit «illustriert» die Musik die Ereignisse mit einem sanften Dean Martin-Song oder einem Händel-Stück.
Fazit: Einzigartig sind nicht nur die ungefilterten Naturbilder, auch wenn hier und da getrickst wurde, sondern auch das Konzept, nicht einzugreifen (ausser beim Schnitt), zu kommentieren und vor allem die Tiere nicht zu vermenschlichen. Der Naturfilm «Die Eiche – Mein Zuhause» ist nicht nur ein fesselndes Dokument, auf einen Baum beschränkt, der für vieles in der bedrohten Umwelt stehen kann, sondern auch ein Seherlebnis, das Gedanken und Gefühle anregen und vertiefen könnte.