2023 war ein turbulentes Kinojahr. Als sei die Branche – allen voran die Kinos – nach der schweren Corona-Zeit nicht schon genug gebeutelt, kam der berechtigte Streik der US-Drehbuchautor:innen und -Schauspieler:innen dazu. Filmstarts wurden verschoben und selbst den grossen Filmfestivals fehlten die Stars. Doch wer sich davon nicht abhalten liess ins Kino zu gehen, wurde vielleicht gerade deshalb belohnt! Hier, welche Filmperlen unser Team entdeckt hat …
Das Kinojahr 2023
Auch in diesem Jahr wollen wir zurückschauen und verraten, welche Filme 2023 prägend waren für unsere Filmjournalist:innen.
Spielfilm
Madeleine Hirsiger: ROTER HIMMEL – Ein norddeutsches Ferienhaus an einer Waldlichtung nahe am Meer wird zum Hotspot von Irrungen und Verwirrungen, von Beziehungen, von Selbsterfahrungen und vom Suchen nach der Identität. Ein immer näherkommender Waldbrand intensiviert das Geschehen. Christian Petzolds ROTER HIMMEL ist ein Sommerfilm erster Güte und überzeugt mit jungen, engagierten und begabten Schauspieler:innen.
Rolf Breiner: ANATOMIE D’UNE CHUTE – Ein Mann stürzt zu Tode, seine Ehefrau wird verdächtigt. Der Todesfall und eine Ehe werden vor Gericht seziert. Der Justiz- und Psychothriller von Justine Triet ist ein Meisterwerk subtiler Inszenierung, geprägt von Sandra Hüller als vorverurteilte Gattin und Milo Machado Graner als Sohn des Toten.
Doris Senn: FALLEN LEAVES – «Ist alle Hoffnung dahin, gibt es keinen Grund für Pessimismus», meint der finnische Kultregisseur und schafft einmal mehr ein kleines herzerwärmendes Meisterwerk. Unverdrossen ist Kaurismäkis Engagement für die kleinen Leute, gewitzt seine
ausgeklügelten Settings, das Ganze gespickt mit Anspielungen, die cinephile Herzen höher schlagen lassen.
Silvia Posavec: ABOUT DRY GRASSES – Nuri Bilge Ceylans episches Wintermärchen um drei einsame Menschen, zwei Weltanschauungen und eine falsche Anschuldigung spielt im fernen Anatolien und ist mit seinen komplexen Figuren dennoch direkt aus dem Leben gegriffen. Merve Dizdar überzeugt – stark und verletzlich – in der weiblichen Hauptrolle und wurde in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet.
Geri Krebs: TÓTEM – Nichts weniger als das Leben selbst – und dessen bevorstehendes Ende – an einem einzigen Tag aus der Sicht eines kleinen Mädchens: All das zu zeigen, schafft die Mexikanerin Lila Avilés mit diesem bewegenden Ensemblefilm, der so todtraurig wie bisweilen schreiend komisch ist.
Ondine Perier: LE RAVISSEMENT – Der erste Film der jungen Französin Iris Kaltenbäck handelt von der Freundschaft zwischen zwei Frauen, die erschüttert wird, als eine von ihnen Mutter wird. Diese komplexe Beziehung im Angesicht der Mutterschaft führt zu einer atemlosen Geschichte, in der die Spannung nie nachlässt. Der Film wird von der grossartigen Schauspielerin Hafsia Herzi getragen.
Dokumentarfilm
Madeleine Hirsiger: LAS TORERAS – Die Allround-Künstlerin Jackie Brutsche macht sich in ihrem Dokumentarfilm auf die Suche nach den Gründen des Suizids ihrer Mutter. Sie befragt ihren Bruder, den Vater und vor allem die Verwandten im spanischen Hinterland, wo ihre Mutter herkommt. Und die Autorin setzt sich zwischendurch theatermässig selbst in Szene, was den Film zu einer facettenreichen, kreativen Dokumentation werden lässt.
Rolf Breiner: DURCHS HÖLLENTOR INS PARADIES – Wie bändigt man über 110 Jahre Bau- und Kunstgeschichte in einem einstündigen Film? Peter Reichenbach und Sibylle Cazajus haben’s möglich gemacht. Ihr Dokumentarfilm über das Zürcher Kunsthaus lädt zu einer Zeitreise DURCHS HÖLLENTOR INS PARADIES, ohne schulmeisterlich oder akademisch zu wirken.
Doris Senn: ORLANDO, MEINE POLITISCHE BIOGRAPHIE – Der spanisch-französische Philosoph und Genderaktivist Paul B. Preciado katapultiert Virginia Woolfs Roman ins 21. Jahrhundert und lässt uns mit einer schillernden Crew vielfältiger Orlandos frei flottieren im nicht binären Gender-Space. Tiefgründig und poetisch, verspielt und keck.
Silvia Posavec: POLISH PRAYERS – Ein Sturz kopfüber in eine der polarisiertesten Gesellschaften Europas: Antek gehört einer christlich-fundamentalistischen Bruderschaft an. Regisseurin Hanna Nobis kommt ihm sehr nahe und begleitet ihn auf seinem Weg raus aus der Welt der einfachen Antworten. Mutig, einfühlsam und hoffnungsvoll.
Geri Krebs: HOLLYWOODGATE – Szenen aus dem Reich fundamentalistischer Wahnsinniger, dem Afghanistan der Taliban, zeigt dieser atemberaubende Dokumentarfilm. Der in Berlin lebende Ägypter Ibrahim Nash’at hat viel riskiert – und den Satz vom Dokumentarfilmer, der in Welten geht, die normalerweise verborgen bleiben, ganz nebenbei auch dramaturgisch brillant umgesetzt.
Ondine Perier: BIG LITTLE WOMEN – Ein eindringlicher Dokumentarfilm der schweizerisch-ägyptischen Filmemacherin Nadia Farès über das patriarchale System und wie es das Leben von Frauen im Orient und im Westen über drei Generationen hinweg beeinflusst, in dem die Regisseurin geschickt ihre persönliche Geschichte mit anderen Erzählungen von Frauen zu diesem brisanten Thema verflechtet. Berührend und notwendig.
Schweizer Film
Madeleine Hirsiger: DIE NACHBARN VON OBEN – Das Paar von unten hat das Paar von oben zu einem Apéro eingeladen. Unten herrscht schon dicke Luft, weil der Mann die von oben nicht wirklich mag: Er nervt sich am lauten Sex, den sie unten eben nicht mehr haben. Mann gibt sich Mühe, ein Wort ergibt das andere, Wunden brechen auf und schliesslich bringt der Vorschlag für einen flotten Vierer das Fass zum Überlaufen. Regisseurin Sabine Boss zerpflückt gekonnt das Muster von ausgeleierten Beziehungen und macht ein tiefgründiges, fast leichtfüssiges Psychodrama draus.
Rolf Breiner: FOUDRE – Bergwelt um 1900. Die Novizin Elisabeth kehrt zwangsläufig in ihr Elternhaus zurück, um die Arbeit ihrer verstorbenen Schwester Innocente zu übernehmen. FOUDRE – ein sinnliches Drama um Begehren, Lust und Glauben, Unterdrückung und Liebe, stark inszeniert von der Schweizerin Carmen Jaquier.
Doris Senn: LAS TORERAS – Das Langfilmdebüt von Jackie Brutsche entwickelt eine feine Suspense und zeigt immer wieder überraschende Wendungen in ihrer Annäherung an die Familiengeschichte. In einfühlsamen Gesprächen löst die Regisseurin Schicht um Schicht, legt Tabus frei, hinterfragt «Wahrheiten» und findet schliesslich Versöhnung.
Silvia Posavec: L’AMOUR DU MONDE – Frei inspiriert von C.F. Ramuz’ gleichnamigen Roman, bringt Jenna Hasse eine herzerwärmende Geschichte über drei junge Menschen auf die Leinwand, die sich unerwartet Trost spenden und Geborgenheit geben. Dieser ungewöhnliche Sommerfilm ist voller Poesie und ein wunderbares Hoch auf die Wahlfamilie.
Geri Krebs: LAS TORERAS – Es gibt ja nicht wenige Filme, die versucht haben, das Unbegreifliche – den Selbstmord eines nahestehenden Menschen – greifbar zu machen. Doch noch nie ist das jemand mit so grimmigem Humor, verrückten Einfällen und wilder Entschlossenheit angegangen wie Jackie Brutsche auf dieser Spurensuche nach ihrer Mutter.
Ondine Perier: INTERDIT AUX CHIENS ET AUX ITALIENS – Der Film von Alain Ughetto zeichnet ein Familienepos italienischer Einwanderer zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Er erinnert uns daran, wie viel Frankreich der Zuwanderung zu verdanken hat. Ein Animationsjuwel mit überbordendem Einfallsreichtum und Poesie.