Das Zurich Film Festival wird von Jahr zu Jahr besser. Massgebend dazu beigetragen hat das Team um und mit Artistic Director Christian Jungen. Eine Manöverkritik der arttv Filmjournalist:innen, die fast nichts zu kritisieren haben. Mit Beiträgen von Rolf Breiner, Madeleine Hirsiger, Geri Krebs, Ondine Perier, Silvia Posavec, Felix Schenker und Doris Senn.
Da gibt es nichts zu meckern, das Zurich Film Festival 2022 war eine Freude
- Publiziert am 4. Oktober 2022
Unser Best-of ZFF 2022: die Top 3 der Gruselfilme, der schwule Tschaikowski, Tonspuren im Mittelpunkt, ein Gespenst und trendige Teenager
Trendiger Teenager
Die 18. Ausgabe ist Geschichte und das Zurich Film Festivals somit volljährig geworden. arttv Chefredaktor Felix Schenker war all die Jahre dabei. Er erinnert sich: «Es ist gewaltig, was sich seit der ersten Ausgabe getan hat! Das ambitionierte Projekt steckte noch in den Kinderschuhen und war auf jeden Journalisten und jede Journalistin angewiesen. Man hat uns regelrecht darum gebeten, präsent zu sein. Zuweilen waren wir nur gerade mal drei Nasen im Kino.» Heute ist alles ganz anders. Auch jene, die früher über das ZFF die Nase rümpften, hätten das Festival schätzen gelernt. Zu einem grossen Teil ist das der Verdienst von Artistic Director Christian Jungen. Dieser freut sich darüber, dass seinem Festival in der internationalen Presse und in Fachkreisen immer mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Der britische Guardian nannte das ZFF kürzlich den «trendigen Teenager» unter den Festivals und nahm es – wohlgemerkt gemeinsam mit dem Locarno Film Festival – in eine Liste der zehn besten Sommerfilmfestivals in Europa auf. Wie es sich für ehrgeizige Teenager gehört, werden die Ziele nun hoch gesteckt, denn das ZFF will zu den ganz Grossen gehören.
Gespür für das Publikum
Der ehemalige NZZ-Filmjournalist Jungen gestaltet das Programm, wie er früher seine Texte schrieb: mit Leidenschaft für den Film und gutem Gespür für sein Publikum. Nicht weniger als 146 Filme waren zu sehen in drei Wettbewerbssektionen und weiteren spannenden Kategorien, die es dem Festivalteam erlaubten, innovative Projekte vorzustellen. Was bestens gelang. Bei dieser riesigen Auswahl an guten Filmen und breitem Rahmenprogramm ist es schwer, allem gerecht zu werden. Deshalb haben wir unsere arttv Filmjournalist:innen aufgefordert, ihre persönlichen Festivalhighlights nochmals aufleben zu lassen.
Regenwolken und Sonnenschein
Kaum jemand bringt mehr Filmfestival-Erfahrung mit als unsere Filmjournalistin Madeleine Hirsiger. An einem regnerischen Tag ereilte sie das Film-Glück: «Albert Anker. Malstunden bei Raffael» habe sie in eine andere Zeit katapultiert, ins Dorf Ins ins Original-Atelier des Künstlers Albert Anker(1831-1910). Der Dokumentarfilmer Heinz Bütler räumt mit dem Klischee auf, Anker sei ein ländlicher Heimatmaler gewesen und hätte nur strickende Mädchen, Schulklassen oder Stillleben gemalt. Praktisch unbekannt sind seine Aquarelle, die viel impressionistischer sind als Ankers Ölbilder. Anker, der fast alle namhaften Impressionisten persönlich kannte, lebte jeweils die Hälfte des Jahres in Paris. Attraktiv und kurzweilig ist die Umsetzung des Filmstoffes inklusive einer kleinen kunsthistorischen Sensation: Die Entdeckung von Stoffpuppen, die Anker selber hergestellt hat. Der verstorbene Musiker Endo Anaconda führt durch den Film, Oliver Schnyder spielt Klavier und Nina Zimmer vom Kunstmuseum Bern bringt uns Anker kunsthistorisch näher. Albert Anker war ein Maler internationaler Tragweite und der Film für Hirsiger eine Entdeckung, die die Regenwolken zum Sonnenschein umgewandelt haben.
Neuer Besucherrekord
Madeleine Hirsiger war nicht die Einzige, die in den zehn Festivaltagen in den Zürcher Kinos wettertechnisch Zuflucht gesucht und gefunden hat. Das verregnete Wetter schlug sich laut Abschlussbericht des Festivals sehr positiv in den Besucherzahlen nieder. Mit über 135 000 Kinobegeisterten feiert das Festival einen neuen Rekord. Oftmals waren selbst die Nachmittagsvorstellungen ausverkauft. Neben den vielen kleinen Kinosälen, auf die das Festival in der Stadt zurückgreifen kann, ist seit letztem Jahr eine neue noble Adresse hinzugekommen. Der Kongresssaal bringt mit einem Schlag weitere 1200 Sitzplätze ein. Auch wenn man den Aufwand der Umnutzung infrage stellen kann, ist es zweifelsohne ein prestigeträchtiger Austragungsort an bester Adresse für das ZFF.
Zuvorkommende Mitarbeiter:innen
Das ZFF spannte über die gesamte Zürcher Innenstadt sein Netz aus Filmvorführungen. Gefühlt konnte man an jeder Ecke einen Film geniessen. Doch was für die einen ein Segen war, war für einige Filmschaffende ein Fluch. So manche:r musste sich aus rein logistischen Gründen zwischen Pressevorstellungen entscheiden und für das Fachpublikum wurde das Festival zu einem Spiessrutenlauf im Regen. Unser Filmjournalist Geri Krebs kehrte deshalb regelmässig ins Pressezentrum zurück, um ein reguläres Ticket zu lösen. Ihn irritierte das nicht ganz unkomplizierte Ticketsystem, fand aber so nette und zuvorkommende Mitarbeiter:innen wie noch nie vor: Sie machten immer alles möglich!
Top-Drei der Ekelfaktor-Filme
Geri Krebs konnte sich doch noch einiges ansehen. Hier seine Top-Drei der Ekelfaktor-Filme: Platz eins geht an Luca Guadagnino und seinen Film «Bones and All» – wirklich «gruusig» aber sehr originell. Zwei menschenfressende Teenager als Filmthema, das tönt erstmal cheep! Tatsächlich ist es aber ein romantisches Horror-Drama von Arthouse-Qualität. Horror-Grossmeister David Cronenberg wird von Krebs auf den zweiten Platz verwiesen, denn sein philosophischer Ernst in «Crimes of the Future» ging ihm – trotz aller verrückter Einfälle – auch gehörig auf den Sack. Den dritten Platz ergattert der Schweizer Crowdfunding-Überflieger «Mad Heidi». Wer hätte gedacht, dass es Blutfontänen braucht, um das Publikum so zum Lachen zu bringen. Ein Splatterfilm für die Seele, satirisch-komisch und lustig-eklig. Überrascht hat Krebs noch ein weiterer Film, dem er die Auszeichnung «schönster Kitsch» zukommen lässt: «Sachertorte» von Tine Rogoll sei so süss, wie der Titel. Er ist aufgebaut wie eine romantische Komödie aus den guten alten Hollywoodzeiten der 50er, aber ins Wien von 2021 versetzt: Herz-Schmerz pur und Max Hubacher eine Wucht.
Tonspur im Zentrum
Unser Kritiker.innen-Experiment zeigt letztlich auch, wie unterschiedlich die Motivation für einen Besuch des Zurich Film Festivals sein kann. Während Geri Krebs sich den Genres-Filmen zugewandt hat, machte sich Doris Senn in der neu geschaffenen Sektion «Sounds» auf Entdeckungsreise. Das ZFF widmet sich darin voll und ganz der Musik im Film, anhand von acht Spiel- und Dokumentarfilmen wird «die Tonspur ins Zentrum gerückt», wie es im Programm heisst. Bei einem Film verschlug es Doris Senn den Atem: Was für eine Stimme! Was für ein Gesicht! Das unvergleichliche filmische Kleinod, auf das Senn sich bezieht, stellt eine Sängerin vor, deren Stimme die 90er-Jahre einleitete und mitten ins Herz traf. Sinéad O’Connor – Sängerin, ikonische Erscheinung, politisch fadegrad. Kathryn Ferguson erzählt in «Nothing Compares» die Geschichte dieser Künstlerin, die ihr Engagement mit ihrer Karriere bezahlte – und das nur mit Archivmaterial. Für Doris Senn einfach: Brillant!
Ein Herz für das frankophone Kino
Neu war auch unsere französischsprachige Kollegin Ondine Perier auf dem Festival für arttv.ch unterwegs. Ihr Herz schlägt voll und ganz für das frankophone Kino, so fällt ihre Wahl – nicht wenig überraschend – auf das sensible Drama «Close» des Belgiers Lukas Dhont (Grand Prix des Festivals von Cannes 2022). Die Geschichte über die verschmelzende Freundschaft zwischen zwei Teenagern hat sie von Anfang bis Ende überwältigt und mitgerissen. Die Schönheit der Aufnahmen und der grossartige Soundtrack trugen hier zum Staunen bei. Perier hat den sympathischen Regisseur auf dem Festival getroffen und wir dürfen uns auf ein Interview mit Lukas Dhont freuen, der sein Werk mit seltener Sensibilität und Intelligenz perfekt verkörpert. Zu lesen auf arttv.ch zum Filmstart im November.
«Foudre» – die Entdeckung
Ein Interview mit der Genfer Nachwuchsregisseurin Carmen Jaquier, der Frau hinter «Foudre», dem bildgewaltigen Drama, das in einem Walliser Bergdorf um das Jahr 1900 angesiedelt ist, findet sich bereits jetzt schon auf unserer Plattform. Für Felix Schenker ist eine besagte Szene im Film, in der die Hauptfigur von drei Männern liebkost wird, etwas vom erotischsten, das wir seit langem im Kino gesehen haben. «Foudre» und Carmen Jaquier sind eine wahre Entdeckung! Der Film lief in «Fokus Wettbewerb» musste den ersten Platz leider der Dokumentarfilm-Produktion «Cascadeuses» von Elena Avdija überlassen, darf sich aber über die «Besondere Erwähnung» freuen, darüber hinaus auch über die Auszeichnung mit dem Filmpreis der Zürcher Kirchen und über den Kritikerpreis. Gar keine so schlechten Trostpreise. Und so kann es gehen, keiner der eigentlichen Gewinnerfilme des diesjährigen ZFF hat es in unsere Best-of Liste geschafft, doch sollen sie trotzdem nicht unerwähnt bleiben. Neben «Cascadeuses» gewann «Los reyes del mundo» von Laura Mora im Spielfilm Wettbewerb, den Dokumentarfilm Wettbewerb entschied «Sam Now» von Reed Harkness für sich.
Schwuler Tschaikowski
Für Felix Schenker gab es eine Vielzahl von guten Filmen, die er dem Publikum ans Herz legen möchte. Wie Ondine Perier ist auch er ein ganz grosser Fan von «Close». Unvergesslich sind für ihn aber auch «Triangle of Sadness», «Bros» und «Foudre». Besonders hervorheben will er aber «Tchaikovsky’s Wife» vom russischen Regisseur Kirill Serebrennikow. Der Film beleuchtet die Beziehung zwischen Pjotr Tschaikowski, dem berühmtesten russischen Komponisten aller Zeiten, und seiner Frau Antonina Miljukowa. Gerüchte gehen in Moskau um, dass der grosse Meister eigentlich homosexuell ist und junge Männer liebt. Antonina lässt sich aber nicht beirren und drängt Pjotr zur Ehe. Selbst nachdem seine Schwester ihr nachdrücklich erklärt, Pjotr werde nie eine Frau lieben können, verweigert Antonina die Trennung. Lieber geht sie an der unerwiderten Liebe zu ihrem Ehemann zugrunde und landet im Irrenhaus. Da bleibt sie bis zu ihrem Tod. Der Film geriet in die Schlagzeilen, als Regisseure in Cannes verlangten, russische Filme hätten nichts im Programm zu suchen – was insofern absurd ist, weil sich Serebrennikow klar von der russischen Politik distanziert und heute in Berlin lebt. Der Film ist aber auch kontrovers, weil der Regisseur das Thema ganz bewusst aufgreift. Gerade in Russland wird es vielen nicht passen, dass im Film von Kirill Serebrennikow das Schwul-Sein von Tschaikowski ausgebreitet wird – der russische Kulturminister soll kochen vor Wut.
Ein Gespenst geht um
Auch Rolf Breiner wendet sich einem kontroversen Film zu. «Der junge Häuptling Winnetou» hat mächtig für Schlagzeilen gesorgt. Allgemein bekannt ist, dass der Ravensburger Verlag das Buch zum Film aus seinem Programm genommen hat. Neu ist hingegen, dass er nun tatsächlich nicht in die Schweizer Kinos kommt. Für Breiner ein weiteres sinnloses Opfer einer kulturellen Bevormundung – ein Gespenst geht um. ZFF-Direktor Christian Jungen zeigte sich von der ganzen Kritik glücklicherweise unbeeindruckt und liess den Film im Rahmen der «ZFF für Kinder»-Sektion spielen. Warum auch nicht! Bei der Aufführung, die Breiner im Abaton besuchte, waren die jungen Besucher:innen zufrieden und applaudierten begeistert. Keine geringerer als der internationale Schweizer Filmstar Anatole Taubman macht im Film böse Miene als Banditen-Boss und suhlte sich als Kerl, der Indianer austrickste …? Aber die junge Freundschaft und edle Absichten siegten gleichwohl. Ein harmloser, gut gemeinter und kindergerechter Abenteuerfilm, in dem es wohl Prügeleien und Fesselungen gab, aber keine Tote und Verletzte! Im Gegensatz zu den Kindern war der Moderator im Kino freilich nicht ganz auf der Höhe. Karl May wurde 1842 in Ernstthal geboren und nicht 1942, wie er zweimal behauptete.
Dokumentarische Formen
Silvia Posavec freut es, dass dokumentarische Formen auf dem diesjährigen Filmfestival stark vertreten waren. «Holidays» von Antoine Cattin etwa, der mit seiner Chronik russischer Feiertage in St. Petersburg einen nüchternen Querschnitt durch die gespaltene Gesellschaft zeigt – eine Dokumentation, die vor dem militärischen Überfall auf die Ukraine abgedreht wurde. Oder die viel diskutierte TikTok-Doku «Girl Gang» von Susanne Regina Meures über die Teen-Influencerin Leonie, die auf nichts verzichten muss im Leben, ausser auf echte Freunde, so ihr Vater und Manager. Aber wirklich beeindruckt hat Posavec die Dokufiktion «Cinema Sabaya» von Orit Fouks Rotem. Ein Film, der nach Dokumentarfilm aussieht, aber keiner ist. Alle Probleme, welche die israelischen und palästinensischen Frauen in ihren Begegnungen ansprechen und austragen, sind im Kern so wahr, dass der gesamte Film zu einem zeitweise schonungslosen Testlauf wird. Hier gibt es keine vorgefertigte Formel der Versöhnung zu finden, aber einen mutigen und starken Willen, der an aller Anfang steht. Ein Film, der ein noch viel zu wenig ausgeschöpftes Potenzial aufdeckt. Oft beschworen werden die «neuen Welten», die uns Filme zeigen. Doch was sie eigentlich leisten, ist gesellschaftliche Handlungsräume durchspielen. Was kann ein Mensch im heutigen Russland tun und wie verhalten sich Teenager:innen in den Sozialen Netzwerken, all diese filmischen Erfahrungen und Begegnungen tragen wir mit uns aus dem Saal in unsere Leben hinein.
Wie unsere Manöverkritik – für einmal ein quasi reines Best-of – zeigt, war das diesjährige Zurich Film Festival eine sehr umfangreiche und individuelle Bereicherung. Ein Festival voller Möglichkeiten, wie das Leben mit 18 Jahren selbst. Wir freuen uns auf das weitere Coming of Age.