Anne Fontaine und Raphaël Personnaz waren anlässlich der Rencontres 7e Art in Lausanne, wo an einer Vorpremiere ihr Film BOLERO gezeigt wurde. Die Regisseurin Anne Fontaine ist selbst in einer von Musik geprägten Atmosphäre aufgewachsen. Mit viel Feingefühl und einer einnehmenden Ästhetik widmet sie sich in ihrem Spielfilm BOLERO dem empfindsamen und fantasievollen Komponisten hinter dem zeitlosen Meisterwerk.
BOLERO | Anne Fontaine und Raphaël Personnaz
BOLERO | Synopsis
1928, während Paris im Rhythmus der Roaring Twenties schwingt, gibt die Tänzerin Ida Rubinstein bei Maurice Ravel die Musik für ihr nächstes Ballett in Auftrag. Dafür muss der Komponist durch die Seiten seines Lebens blättern – die Misserfolge seiner Anfänge, der Bruch durch den Ersten Weltkrieg, die unmögliche Liebe zu seiner Muse Misia Sert… Ravel taucht tief in sein Innerstes ein, um sein universelles Werk, den Bolero, zu schaffen.
Interview Anne Fontaine und Raphaël Personnaz | BOLERO
Von Djamila Zünd
Ihr erzählerischer Ansatz in BOLERO unterscheidet sich von herkömmlichen Biopics, er legt den Schwerpunkt auf die Entstehung des gleichnamigen Stücks, anstatt linear das Leben des Komponisten Maurice Ravel zu verfolgen. Was war Ihr Ausgangspunkt, Bolero oder der Komponist?
Anne Fontaine: Für mich gehört das zusammen. Ich wollte unbedingt einen Film über einen grossen französischen Komponisten drehen. Ich komme selbst aus einer Familie, in der die Musik allgegenwärtig war – mein Vater war Organist – und war immer von zeitgenössischen Musikern und Komponisten umgeben. Ravel war daher eine naheliegende Wahl. Ich entschied mich dafür, ihn durch den Bolero zu entdecken. Und was könnte universeller sein als dieses Stück? Jeder kennt es, jeder kann es sich aneignen. Dank der betörenden, repetitiven Musik entstand die Struktur des Drehbuchs. Die Musik half gleichzeitig, nach und nach in den Kopf der berühmten und gleichzeitig wenig bekannten Komponisten einzutauchen.
Da Maurice Ravel 1,57 m gross war, mag die Wahl von Raphaël Personnaz auf den ersten Blick überraschend erscheinen.
Anne Fontaine: Was ich suchte, war Liebe auf den ersten Blick. Für mich ist das, was zwischen der Figur und dem Schauspieler entsteht eine Art Ehe, in der beide miteinander verschmelzen. Ich liess Nahaufnahmen von Raphaels Gesicht machen, als ich sie sah, wusste ich, das ist er. Plötzlich wurde Maurice Ravel zum Leben erweckt.
Der Komponist wurde nur einmal dargestellt, in einem Fernsehfilm im Jahr 1979. Was bedeutet das für ihre Interpretation?
Raphaël Personnaz: Ich distanziere mich davon, das würde mich zu sehr unter Druck setzen. Nein, es geht darum, zu versuchen, die Figur zu verstehen und das, was Ravel damals erlebt hat.
All das trat zu einem perfekten Zeitpunkt in mein Leben. Wenn es fünf Jahre früher gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen. Ich war gerade selber ratlos, hatte ähnliche Phasen der Leere erlebt, wie sie Ravel empfunden hatte. Es sprach mich sofort an. Wenn Anne mir vorschlagen würde, die Figur heute zu verkörpern, wäre ich wohl nicht in der Lage dazu [Lacht]. Vor kurzem habe ich mir BOLERO noch einmal angesehen und festgestellt: Heute könnten wir das nicht noch einmal machen.
Lassen Sie ihrem Spiel auch Raum für Spontaneität?
Raphaël Personnaz: Ja, sonst ist es zu kontrolliert. Ein Neuropsychologe hat mir einmal gesagt, dass man die Grösse des Unbewussten und des Bewussten vergleichen kann mit dem Eiffelturm und einem Playmobil; das Bewusstsein wäre das Playmobil und das Unbewusste der Eiffelturm. Wenn Sie dem Unbewussten keinen Raum geben, kann all die Arbeit, die Sie ein Jahr lang im Vorfeld leisten, die Recherche, das Sichten von Dokumenten, das Erlernen des Klavierspiels usw. bei den Dreharbeiten zunichte gemacht werden. Man muss die Kontrolle aufgeben, um zuzulassen, dass etwas geboren wird. Manchmal passiert es, manchmal nicht. Bei BOLERO ist es passiert.
Haben Sie bei den Dreharbeiten im Zimmer des Komponisten, das jetzt ein Museum ist, etwas entdeckt, das Ihren Film um eine zusätzliche Dimension bereichert hat?
Anne Fontaine: Stellen Sie sich vor, Sie betreten ein Haus aus einem anderen Jahrhundert, einer anderen Zeit. Alles dort stammt von ihm, auch sein Klavier. Das wirkt unweigerlich sehr stark.
Ein Orchester zu dirigieren ist eine einzigartige Erfahrung. Können Sie das Gefühl beschreiben, wie es ist, zu dirigieren? Und wie haben Sie sich darauf vorbereitet?
Raphaël Personnaz: Es ist ein starkes körperliches Gefühl. Ich hatte die Szenen im Vorfeld mit einem Lehrer vorbereitet. Und dann steht man plötzlich vor all diesen Musikern. Für mich ist das Schönste – ob in einem Orchester, einer Theateraufführung oder sogar auf einem Filmset – der Moment, in dem ich von Live-Musikern umgeben bin. Es sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Ich stelle mir immer wieder vor, dass jeder dieser Instrumentalisten ein kleines Kind von zehn Jahren ist, das sich allein in seinem Zimmer mit seiner Geige abmüht. Und dann, mit einem Mal, hebt es ab und findet mit anderen Musikern zusammen, um diese Schönheit im Einklang zu erschaffen. Immer, wenn ich diese kleinen Kinder vor mir sehe, bin ich gerührt.