Als Kommissionsmitglied der Zürcher Filmstiftung hatte Greg Zglinski vor Jahren ein Drehbuch gelesen, das er nie mehr vergessen konnte. Es stammte vom 2007 verstorbenen Jörg Kalt. Der Film, dem Kalts Drehbuchidee zugrunde liegt, heisst «Tiere», läuft an der Berlinale und ist aus Schweizer Sicht der wichtigste Film des Festivals.
Berlinale 2017 | «Tiere» von Greg Zglinski | Ehrenrettung für die Schweiz
- Publiziert am 15. Februar 2017
Tiere wohin man schaut
«Tiere» von Greg Zglinski ist aus zwei Gründen DER Film der Berlinale 2017. Einmal weil es dieses Jahr in den gezeigten Produktionen von Tieren nur so wimmelt und der Titel des Filmes somit fast schon Programm ist. Es scheint, dass die Natur im Film neu entdeckt wird. Die Tiere der Berlinale-Filme sind nicht einfach nette Wesen. Oft stehen sie für etwas Tiefgründiges, etwas Archaisches und Mystisches. So auch im Film von Zglinski. Ein junges Paar begibt sich auf eine Reise von Österreich in die Schweiz, unterwegs kollidiert sein Auto mit einem Schaf. Die Frau wird schwer, der Mann leicht verletzt. Ob dem aber wirklich so ist, bleibt Spekulation. Denn sicher ist nichts, was wir sehen. Es kann alles nur Traum, Einbildung oder Vorstellung sein. Das ist verstörend und faszinierend zugleich und verleiht dem Film einen unwiderstehlichen Sog. Mit Greg Zglinski ist ein Meister am Werk. Bei der jungen Generation, so hört man übrigens, sei momentan nur angesagt, wer sich weg vom Computer in die Natur begibt. Im Fall von «Tiere» ist das Kino aber eine gute Option.
Ehrenrettung für die Schweiz
«Tiere» ist aber auch aus einem anderen Blickwinkel DER Film der Berlinale 2017, nämlich aus Schweizer Sicht. Ohne Zglinskis Film wäre unser Land produktionstechnisch gesehen am diesjährigen Festival quasi inexistent. Abgesehen von einigen minoritären Koproduktionen, etwa dem herausragenden Film «I am not your Negro» oder den drei Filmen von Schweizer Regisseuren, die im Rennen um den Deutschen Filmpreis sind. Zum Glück können wir dafür mit einem umso überzeugenderen Film auftrumpfen. 2005 hat der Regisseur mit polnischen Wurzeln für «Tout un hiver sans feu» den Schweizer Filmpreis gewonnen. «Tiere» ist seine erste Koproduktion, beteiligt sind neben der Schweiz (Tellfilm aus Zürich) auch Österreich und Polen. Entstanden ist ein kleines Meisterwerk, das wie alle guten Filme noch lange nach dem Abspann nachwirkt. Der Film basiert auf einem Drehbuch von Jörg Kalt, der 2007 mit vierzig Jahren freiwillig aus dem Leben schied. Der in Zürich und München aufgewachsene Regisseur war lange Zeit als Journalist und Kolumnist tätig, bevor er sich 1991 dem Film zuwandte. Sein zweiter Spielfilm, «Crash Test Dummies» lief 2005 an der Berlinale und eröffnete die Diagonale in Graz.
«Tiere» – die Story
Nick und Anna fahren für ein halbes Jahr in die Schweiz. Er will Rezepte der lokalen Küche sammeln und sie endlich ein neues Buch schreiben. Die Auszeit könnte auch gut für ihre Beziehung sein, denn Anna weiss von Nicks Affäre mit der Nachbarin Andrea, die sich aus dem Fenster stürzt. Die Fische und der Philodendron in ihrer Wiener Wohnung werden solange von Mischa versorgt. Auf der Fahrt in die Schweiz haben sie einen Unfall mit einem Schaf. Je weiter die Filmerzählung voranschreitet, desto mehr löst sie selbst alle Gewissheiten auf und sät Zweifel. Womit beginnt eigentlich die Handlung? Sind die Figuren sie selbst oder Produkte der Vorstellungskraft anderer? Nachdem zunächst die Zeitebenen durcheinander geraten sind, lösen sich auch die räumlichen Grenzen auf. Zwischen der Wiener Wohnung und dem Schweizer Chalet gibt es irritierende Parallelen. Und sieht die Eisverkäuferin im Nachbarort nicht aus wie Mischa? Ist Annas Eifersucht grundlos, oder soll sie die Ratschläge einer sprechenden Katze annehmen? Ist Mischa eigentlich Andrea? Kann es am Ende auf alle Fragen eine Antwort geben? Abwarten, denn «Tiere» spielt sein Mindgame zwischen Wien und den Schweizer Alpen äusserst raffiniert.