Aber ist dem auch wirklich so? Die Zeit rennt unerbittlich und aus dem Verhör wird das Aufeinanderprallen zweier Weltanschauungen, ein Streitgespräch über das Gewaltmonopol des Staates und den Widerstand. Dabei schälen sich ganz langsam die tiefen persönlichen Verletzungen der beiden Protagonisten, Thomas und Judith, heraus. Daniel Kehlmanns Stück «Heilig Abend» dreht sich um die zentrale Frage: Gibt es eine legitime Form von Gewalt?
neuestheater.ch | Dornach | «Heilig Abend»
Ist Gewalt legitim? Ein Kommissar und eine Philosophie-Professorin treffen aufeinander. Ein Terroranschlag ist für Mitternacht geplant.
Staatsgewalt versus subversive Gewalt
Daniel Kehlmanns Stück «Heilig Abend» ist, wie viele seiner Texte, leichtfüssig postmodern. So macht er sich beispielsweise in der Figur des Polizisten über das Fach Philosophie lustig («Wenn ein Baum fällt und keiner sieht es, fällt er dann trotzdem?»). Gleichzeitig ist das Stück selbst ausgesprochen philosophisch. In welchem Verhältnis stehen Gedanken und Tat? In welcher Gesellschaft leben wir, wenn der grösste Traum der Menschheit ist, einen möglichst flachen Computer zu besitzen? Dient die Empörungspolitik über Attentate dem Vertuschen anderer, weit schlimmerer Verbrechen? Und, im Bezug auf die befürchtete Bombe um Mitternacht: Gibt es eine legitime Form der Gewalt? Marcus Signer und Emanuela von Frankenberg verhandeln diese Fragen absolut meisterhaft, indem sie ihre Rollen immer mal wieder tauschen: Verhörer gegen Verhörte, Verhörerin gegen Verhörten.
Daniel Kehlmann über sein Stück:
«Seit meiner Kindheit habe ich «High Noon» geliebt, und zwar nicht so sehr wegen Gary Cooper oder der Revolverduelle, ja nicht einmal wegen Grace Kelly, sondern wegen der Uhr. Am Anfang sieht man da die Uhrzeit, man weiss, dass zur Mittagsstunde die Mörder kommen werden, und von da an zählt man die Sekunden und folgt dem Sheriff bei seiner vergeblichen Suche nach Bundesgenossen. «High Noon» ist einer der wenigen perfekten Filme – nicht zuletzt weil er in Echtzeit stattfindet, weil in ihm die erzählte Zeit und die Zeit, in der der Film selbst vergeht, auf die Sekunde identisch sind. So etwas wollte ich auch machen, immer schon. Das war der eine Antrieb zu «Heilig Abend»: die Idee von einer Uhr an der Wand, deren Zeiger sich auf den entscheidenden Moment zu bewegen, offen und gross, im Blickfeld der Bühnenfiguren wie des Publikums. Der andere Antrieb, das war meine Verblüffung über die Dinge, die Edward Snowden aufgedeckt hatte: das Ausmass der staatlichen Überwachung in der elektronischen Welt, die Willkür der Geheimdienste, die Möglichkeit der Polizei, unsere Leben in einem Ausmass zu beobachten, wie wir es uns früher nicht hätten vorstellen können. Also schrieb ich zum ersten Mal etwas im weitesten Sinn Aktuelles, ein Stück, das auf die Ereignisse in den Schlagzeilen reagieren sollte – wenn auch auf eine verschobene, gewissermassen spiegelverkehrte Art. Aber wichtiger noch: Ich wollte die Reduktion auf die Grundsubstanz des Theaters. Ein Konflikt zwischen zwei Menschen. Eine Gefahr, eine Ermittlung. Und die wie immer zu schnell vergehende Zeit.» (Quelle: Theater in der Josefstadt)