Das Panorama steht sinnbildlich für die Kunstform der Aufklärung – der allwissende Mensch, das «neutrale Subjekt» steht im Zentrum. Dieses aufklärerische Weltbild wird in aktuellen Debatten hinterfragt und es wird stattdessen eine «Mehrperspektivität», das Existieren vieler Perspektiven anerkannt. Genau diese Multiplizität von Perspektiven ist ein Kerninteresse, das sich durch Abächerlis Arbeit hindurchzieht.
Olivia Abächerli erhält ihre erste institutionelle Einzelausstellung
- Publiziert am 2. Juni 2023
Für «The center and the other» widmet sich die Innerschweizerin ortsspezifisch dem historischen Gebäude des Bourbaki-Panoramas.
«Wie werden wir sozialisiert, geformt, geprägt, in welchem Kontext stehen wir und was hat das zu bedeuten? Wo stehe ich im Bezug zu dir, zur Familie, zur Klimakrise, im Bezug zu einem Stück Kuchen oder zu einem Kieselstein? Erst wenn ich das spezifische an meiner Position und meiner Perspektive erkenne, kann ich erahnen, dass jemand anderes eine andere Perspektive einnimmt.»
Die in Nidwalden geborene und in Obwalden aufgewachsene Künstlerin
Oliva Abächerli (*1992) absolvierte den Vorkurs an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. 2016 schloss sie ihren Bachelor in Fine Arts an der Hochschule der Künste in Bern (HKB) ab. Von 2017 bis 2019 absolvierte Olivia Abächerli den Master of Arts Practice am Dutch Art Institute in Arnhem NL. Anschliessend war sie von 2019 – 2021 Fellow der Sommerakademie Paul Klee. Für ihre künstlerische Arbeit und Recherche erhielt sie Preise und Förderungen der Kantone Obwalden und Nidwalden, Basel-Stadt und Bern, wie 2022 den Förderpreis des Aeschlimann Corti Stipendiums. Seit 2018 bildet sie – nebst ihrer individuellen Praxis, die aber immer auch vom sozialen Netz und Kontext geprägt ist – zusammen mit Amélie Bodenmann das Kollektiv DUELL. Von 2017 – 2020 co-leitete sie den Off Space Cabane B in Bern und seit 2021 organisiert sie FLINTA-Raves im Queerfeministischen Raum der Reitschule Bern.
Künstlerische Orientierungssysteme
Äusserst signifikant in Oliva Abächerlis Werk sind die kartographischen Arbeiten und Übersichtspläne mit ihren jeweiligen inhaltlichen Korrespondenzen. So erforscht und kartografiert sie Zusammenhänge aus den Bereichen Soziologie, Kultur, Historie oder Umwelt. Sie stellt politische Fragen in den Raum die sie selbst entweder betreffen oder umtreiben, und positioniert sich exemplarisch dazu. Ihre multimediale Arbeit aus Texten, Video, Sound, Animation, Installationen und selten auch Objekten ist fast immer mit einer zeichnerischen Handschrift versehen, die auf das schnelle, prozesshafte, auf ein persönliches oder intimes Skizzieren hinweisen. Die zeichnerische Ebene steht demnach für einen intimen Blick auf das Recherchierte, oder für einen sinnlichen Zugang zu komplexen Zusammenhängen. So kann Olivia Abächerlis Arbeit meist als Versuch gelesen werden, zeichnerisch Navigationssysteme zu entwickeln für die Orientierung in einer komplexen Realität, oder eher: in einer Vielfalt von Realitäten.
Die Welt sortieren
Was haben der intersektionale Feminismus oder das Prinzip von Eigentum mit der Schwierigkeit zu tun, saisonal einzukaufen? Oder warum tendiere ich dazu zu denken, dass ich recht habe? Für die Kunsthalle Luzern entwickelt Olivia Abächerli unter anderem eine subjektive Kartografie, ein Ausschnitt eines Denkhorizonts. Dazu gehören eine Wandzeichnung, Video-Arbeiten, geätzte Kupferplatten oder gefräste MDF-Boxen. Auch Objekte von Künstlerinnen aus ihrem persönlichen Umfeld, die ihre Arbeit und ihr Denken prägen, finden in ‹the center and the other› Platz. Schlussendlich ist die Ausstellung aber nicht nur ein Versuch, die Welt zu sortieren, sondern sie spricht auch von einem Gefühl der Überforderung: von einem in die Gegenwart übertragenen Schwindel, der einem überfällt, wenn man ganz nah vor einem Panorama steht – oder wenn wir die komplexe Gesamtheit der Welt sehen möchten.