Das Tessin ist immer eine Reise wert, diesen Sommer liefert das MACT/CACT in Bellinzona ein weiteres Argument dafür. Das Museum zeigt eine Einzelausstellung des 1996 verstorbenen Schweizer Künstlers Martin Disler. Er prägte die neoexpressionistische Bewegung, die in Europa zwischen den 1970er und 80er-Jahren entstand. «Woodcuts» zeigt eine Auswahl von Holzschnitten und grossformatigen Stichen, die der mit nur 47 Jahren früh verstorbene Künstler acht Jahre vor seinem Tod ausgeführt hatte.
Das Museo e Centro d'Arte Contemporanea Ticino lockt mit Martin Disler
- Publiziert am 9. Mai 2023
Der Schweizer Künstler zählt zweifellos zu den führenden Vertreter:innen der neoexpressionistischen Bewegung in Europa.
Rückkehr der Malerei
Parallel zur italienischen Trans-Avantgarde, die von Achille Bonito Oliva so vehement vorangetrieben wurde, und zu den Neuen Wilden in Deutschland ist Disler ein wichtiger Vertreter einer der letzten historischen Kollektivbewegungen des 20. Jahrhunderts, die der damaligen Kunstszene jene Wachstums- und Entwicklungsenergie verliehen, die auf viele künftige Generationen einen so starken Eindruck hinterlassen sollte. Die Energie, die diese Phase Ende des letzten Jahrhunderts durchdrang, markierte die Rückkehr der Malerei in eine Kunstszene, die vor allem durch Konzeptkunst und Minimal Art geprägt war. Es war eine Rückkehr mit starken, radikalen Methoden, die die Grenzen zwischen einer ermüdeten Vergangenheit und einer sich abzeichnenden Zukunft markierten.
Von der Geschichte verlassen
Die Bedeutung von Martin Dislers Stichen, die in einer sehr begrenzten Auflage hergestellt wurden, liegt in der Verve und dem Ungestüm, mit dem der Schweizer Künstler seine Holztafeln schnitzte, wobei er jede Art von aggressiven Schneiden und Instrumenten benutzte, um in die Holzplatte zu schneiden, als wäre die Oberfläche eine zu modellierende Skulptur oder eine abzureissende Wand. Abgesehen von den für Disler typischen Themen, die sich vor allem auf die Beziehung zwischen Leben und Tod, zwischen Erotik und unbewusstem Begehren beziehen, repräsentieren diese Werke – deren Zeichen und Inhalt so stark sind – die Not einer Generation, die von der Geschichte verlassen wurde und sich als Waisenkind ihrer eigenen Wurzeln wiederfand. In einer Zeit wie der heutigen, in der die Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts im Rampenlicht der Wiederentdeckung und historischen Neuorientierung stehen, stellt das Werk von Martin Disler mehr denn je eine Wiedererweckung einer Energie dar, die die höchste Kraft und Katharsis der Kunst der letzten fünfzig Jahre kennzeichnete.
(Textgrundlage: Mario Casanova, Bellinzona)