Mit seinem Essayfilm WHILE THE GREEN GRASS GROWS gewann Peter Mettler 2023 die grosse Auszeichnung bereits zum zweiten Mal. Dem 1958 in Toronto als Sohn Schweizer Eltern geborenen Regisseur gelang dies schon 2002 mit GAMBLING, GODS &LSD. Ein Gespräch mit dem Regisseur, der es wie kaum ein anderer in der Schweizer Filmszene versteht, in seinen essayistischen Filmen Spiritualität, Sozialkritik und Poesie ideal zu verbinden.
WHILE THE GREEN GRASS GROWS | Peter Mettler
Der kanadisch-schweizerische Regisseur im Interview anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Grand Prix von Visions du Réel.
Synopsis | WHILE THE GREEN GRASS GROWS
Zuerst: die Appenzeller Landschaft und die Schneeschmelze, die den Fluss anschwellen lässt. Dann: der Tod der Mutter und das Bedürfnis, Zeit mit dem Vater zu verbringen. Schliesslich: eine Pandemie. Der aus dem Appenzell stammende Filmemacher Peter Mettler komponiert in seinem dokumentarischen Schmuckstück das filmische Tagebuch seiner intimen Beziehung zur Welt und den Menschen, die sie bevölkern.
Stimmen | WHILE THE GREEN GRASS GROWS
«Ein monumentales Werk, das von aussergewöhnlicher künstlerischer Sensibilität geprägt ist.» – CINEUROPA | «Dieser Filmemacher ist ein geborener Künstler, ein Dichter und Philosoph, ein Komponist von Licht, Bild und Ton.» – MODERN TIMES REVIEW
Nach seiner Fertigstellung wird Peter Metallers aussergewöhnliches Projekt aus sieben Teilen bestehen. An der diesjährigen Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals in Nyon wurden die zwei ersten Teile der Serie gezeigt.
In WHILE THE GREEN GRASS GROWS, einer siebenteiligen Serie, filmt der Regisseur seinen Alltag in einer Art Tagebuch oder visueller Meditation. Mettler thematisiert den Tod seiner Mutter im Jahr 2019, begleitet von Bildern der Natur und der Appenzeller Berge. Die Pandemie führt ihn dann zurück nach Kanada wo er die letzten Momente mit seinem Vater verbringt. Peter Mettler im Interview: Die Sparsamkeit seines Vaters, die späte Begabung seiner Mutter und seine Freundschaft mit Peter Liechti.
Mit Peter Mettler sprach Geri Krebs
Sie haben zum zweiten Mal den Grand Prix in Nyon gewonnen. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?
Peter Mettler: Das Leben ist in der Tat voll von Kreisen, die sich schliessen. Was ich damals vor über zwanzig Jahren in meinem Voice-over in GAMBLING, GODS & LSD sagte, bestätigt sich erneut. Es ist ein grosses Privileg, in dieser Form meine Rückkehr nach Nyon erleben zu dürfen – und mit diesem zweiten Hauptpreis für eine weitere Ebene der filmischen Erforschung belohnt und ermutigt zu werden. Natürlich ist es persönlich befriedigend, aber noch wichtiger ist: es zeigt eine wachsende Offenheit für unerforschte Wege des Kinos.
Die gemeinsame Geschichte von Ihnen, Ihrer Filmografie und dem Festival reicht ja noch weiter zurück als bis zu GAMBLING, GODS & LSD von 2002. Wann hat diese Geschichte angefangen?
Ich habe tatsächlich eine lange Beziehung mit Nyon und seinem Festival. Und es gibt sogar noch eine zusätzliche Verbindung von mir und Visions du Réel. Denn der frühere Festivaldirektor Jean Perret, der das Festival 1994 unter diesem Namen neu gründete – nachdem es seit 1969 bereits als «Dokumentarfilmfestival Nyon» existiert hatte – nahm meinen Film PICTURES OF LIGHT in jenes erste von ihm geleitete Festival ins Programm auf. Und nicht nur das: er verwendete auch gleich eine Aufnahme aus dem Film für das Festivalplakat, versuchte mit diesem Filmstill zu visualisieren, was er unter ‘Visions du Réel’ verstand. Und seit damals sind fast alle meine Filme in Nyon gelaufen.
WHILE THE GREEN GRASS GROWS ist eine Art filmisches Tagebuch aus den Jahren 2019 bis 2021, gefilmt in der Schweiz, in Kanada und auf La Gomera. Im Zentrum der Erkundungen steht dabei der Tod Ihrer Eltern. Können Sie etwas aus deren Leben erzählen?
Meine Mutter stammt aus einem kleinen Dorf im Toggenburg, mein Vater aus Zürich. Und sie waren damals auf Ihre Art Abenteurer, sie wanderten 1955 gemeinsam aus der Schweiz nach Kanada aus. Sie kannten sich noch gar nicht so lange und waren auch noch nicht verheiratet – was für die damalige Zeit ungehörig war. Mein Vater hatte eine Handelsschule mit Diplom abgeschlossen, meine Mutter hatte als Aupair-Mädchen in England gearbeitet. Und sie gingen nach Kanada mit gerade mal so viel Geld, dass es knapp für ein Rückfahrticket gereicht hätte. Eigentlich hatten sie wenig Ahnung davon, was sie dort erwarten würde. Mein Vater wusste einfach, dass er Bussinessmann werden wollte. Und als einzige Referenz hatte meine Mutter von einem Bekannten gerade mal eine Adresse bei sich. Dennoch schaffte mein Vater es dann, in der Geschäftswelt von Toronto Fuss zu fassen und ein erfolgreiches Unternehmen für den Import von Jute aufzubauen. Meine Mutter dagegen blieb ihr Leben lang Hausfrau.
Und sie tanzte sehr gerne, wie man in mehreren Flashbacks im Film sehen kann.
Ja, das stimmt, aber das hatte vor allem damit zu tun, dass sowohl sie wie auch mein Vater im Alter immer mehr das Gefühl hatten, dass sie mir eine Show bieten müssten, wenn ich sie filmte. Meine Mutter war ja bereits 2018 gestorben, mit 93 Jahren, also noch bevor ich mit meinem filmischen Tagebuch begonnen hatte. Aber sie hatte durchaus ein künstlerisches Flair. In ihren letzten Lebensjahren wurde sie noch zu einer begeisterten Fotografin. Ich hatte ihr, als sie 85 wurde, eine ziemlich gute Kamera geschenkt. Sie fotografierte dann viel, sie hatte ein Auge für die Dinge und ihre Beziehung zu Bildern war wirklich interessant. Sie verstand etwas von visueller Poesie, konnte Verbindungen erschaffen zwischen Dingen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun hatten. Ich bin mir ziemlich sicher: wäre sie schon früher dieser Leidenschaft nachgegangen, sie hätte eine bedeutende Fotografin werden können.
Nun ist aber Ihr Vater der heimliche Protagonist in Ihrem Film. War es schwierig, ihn für diese Rolle zu gewinnen?
Er hatte gar keine Wahl gehabt (lacht laut)
Das müssen Sie jetzt genauer erklären…
Nun, also so hart hätte ich das nicht formulieren dürfen. Aber sowohl meine Mutter wie auch mein Vater hatten sich über all die Jahre daran gewöhnt, dass ich sie immer wieder mal filmte und dann Fragmente dieser Film- und vor allem Tonaufnahmen auch in meinen Filmen auftauchten.
Können Sie Beispiele geben?
Meine Mutter war schon in meinem allerersten Kinodokumentarfilm, SCISSERE, von 1982. Sie singt dort ein Lied. Und in «The End of Time» von 2012 ist sie in der Schlussszene des Films präsent. Oder in PICTURES OF LIGHT gibt es Aufnahmen von der Rückkehr des Space Shuttle und man hört dazu auf der Tonspur meine Mutter, die auf einem Markt von der Qualität einer Wurst schwärmt. Aber all das sind versteckte kleine Dinge.
Hatten Ihre Eltern immer schon Verständnis dafür, dass ihr Sohn so eigenwillige, «komische÷ Filme machte?
Sie haben es akzeptiert. Und wenn ich Erfolg hatte, waren sie stolz auf mich – ich muss dazu aber auch noch sagen, dass ich Einzelkind bin. Probleme gab es allenfalls gelegentlich früher mit meinem Vater. Vor allem dann, wenn er – ganz der Businessman – zu analogen Zeiten, kritisierte: Warum filmst du mich jetzt schon wieder? Du verschwendest kostbares Celluloide, das kommt dich doch viel zu teuer.
Das Publikum in Nyon hat ja ziemlich emotional bewegt auf den Film reagiert, dabei wollten Sie den Film eigentlich gar nicht zeigen, wie Sie in der Einführung erklärten. Können Sie das noch einmal ausführen?
Ja, «While the Green Grass Grows» ist eine insgesamt elf Stunden dauernde Arbeit, die aus sieben Kapiteln besteht. Ich habe in Nyon Kapitel eins und Kapitel sechs gezeigt. Bei den anderen fünf Kapiteln fehlt teilweise noch die Postproduktion, aber das ganze Projekt ist im Rohschnitt fertig. Mein Schweizer Koproduzentin Cornelia Seitler und ich, wir wollten in Nyon diese beiden fertigen Kapitel eigentlich nur in der Industry-Sektion zeigen, doch Emily Bujes bat mich, sie in den internationalen Wettbewerb aufnehmen zu dürfen. So ist es nun noch einmal etwas Besonderes mit einem Film, der eigentlich ein Work in progress ist, den Hauptpreis zu gewinnen. Und was die Reaktion des Publikums betrifft, so war ich überwältigt. Nach beiden Vorführungen kamen Leute auf mich zu und hatten Tränen in den Augen. Der Verlust der Eltern ist etwas, das viele bewegt und das ja jede und jeder von uns einmal erleben wird oder schon erlebt hat.
Mit der Darstellung ihrer Beziehung zu den Eltern, mit ihrem Bezug zur Ostschweiz, aber vor allem mit den wiederkehrenden Versuchen, stimmige Bilder für den Moment des Übergangs vom Leben in den Tod zu finden, hat mich Ihr Film an die zwei letzten Filme von Peter Liechti erinnert, «Vaters Garten» und »The Sound of Insects». Kannten Sie Peter Liechti?
Natürlich, wir standen uns nahe, haben uns auch immer wieder künstlerisch ausgetauscht, haben Ideen diskutiert und in «The Sound of Insects» habe ich sogar das Voice-Over für die Englische Version gemacht. Und einige Jahre davor, in der Zeit, als ich an GAMBLING, GODS & LSD arbeitete, haben wir sogar zusammen in einer WG in Zürich gewohnt. Und die Wohnung in Wald/AR, die man in meinem Film mehrfach sieht, war seinerzeit auch für Peter Liechti ein Arbeitsort gewesen. Peter Liechti und ich waren und sind verwandte Seelen.