THE NARRATIVE eröffnet die 61. Solothurner Filmtage. Im Zentrum steht Kweku Adoboli, ehemaliger Investmentbanker der UBS in London. Solange er Milliarden bewegt und Gewinne produziert, gilt er als Leistungsträger eines Systems, das Risiken feiert und Verantwortung verschiebt. Als ein Handelsfehler jedoch zu einem Verlust von über 2,3 Milliarden Dollar führt, kippt das Bild: Aus dem gefeierten Akteur wird ein Schuldiger, aus systemischem Versagen eine persönliche Geschichte.
THE NARRATIVE
- Publiziert am 13. Dezember 2025
Statement von Niccolò Castelli, künstlerischer Leiter Solothurner Filmtage
«Unser Eröffnungsfilm handelt von einem jungen Menschen, der schnell zum Sündenbock für eine komplexe Finanzindustrie wurde. Einmal in die Welt gesetzt, wurde das Narrativ vom skrupellosen Finanzhändler wiederholt und zementiert. Der Film untersucht die Macht medialer Erzählungen und macht deutlich, wie schwierig es ist, diesen zu entkommen. Das Publikum lernt nicht nur den Fall, sondern auch den Menschen Kweku Adoboli kennen. In diesem empathischen Zugang der Filmschaffenden liegt die Kraft von THE NARRATIVE – eine andere Erzählung als die von ‚Tätern‘ und ‚Opfern‘ wird möglich.»

Wenn Geschichten Macht haben
Der Film geht weit über die klassische Rekonstruktion eines Finanzskandals hinaus. Die Schweizer Regisseure Bernard Weber und Martin Schilt legen offen, wie Narrative entstehen – in Medien, Gerichtssälen und politischen Debatten. Sie arbeiten mit originalen Gerichtsprotokollen sowie persönlichen Aussagen aus Kweku Adobolis Umfeld und stellen unterschiedliche Perspektiven bewusst nebeneinander. Widersprüche bleiben sichtbar, einfache Schuldzuweisungen werden konsequent verweigert. Statt moralischer Abkürzungen zeigt THE NARRATIVE, wie komplex Verantwortlichkeiten im globalen Kapitalismus organisiert sind – und wie gezielt sie im Ernstfall individualisiert werden.
Der perfekte Sündenbock
Adoboli wird im Film nicht rehabilitiert, aber auch nicht dämonisiert. Er erscheint als Teil eines Systems, das Gewinne privatisiert und Verluste personalisiert. THE NARRATIVE stellt damit eine unbequeme Frage: Warum braucht ein entfesseltes Finanzsystem immer wieder einzelne Figuren, um seine eigene Struktur unangetastet zu lassen? Der Film zeigt, wie schnell mediale Empörung, politische Symbolik und juristische Vereinfachung ineinandergreifen – und wie wenig Raum dabei für strukturelle Kritik bleibt.
Dokumentarisches Kino als politische Praxis
Formal bleibt der Film nüchtern, fast kühl – und gerade darin liegt seine politische Kraft. Weber und Schilt verzichten auf reisserische Effekte und vertrauen auf Analyse, Präzision und Kontext. Interviews, Archivmaterial und Akten werden nicht zur Dramatisierung eingesetzt, sondern als Mittel der Aufklärung. THE NARRATIVE fordert sein Publikum heraus, vertraute Deutungsmuster zu verlassen und Verantwortung neu zu denken: nicht als individuelle Schuldfrage, sondern als politische und ökonomische Struktur. Damit wird der Film zu mehr als einem Dokumentarfilm über einen Bankenskandal. THE NARRATIVE ist eine Gegenrede zu einer Zeit, in der komplexe Wirklichkeiten allzu gerne in einfache Geschichten gepresst werden. Er erinnert daran, dass Macht auch immer erzählerisch funktioniert – und dass es Aufgabe des Kinos sein kann, diese Erzählungen zu zerlegen.
Textgrundlage: Swiss Films/Solothurner Filmtage