Das Filmfestival von San Sebastián war in den letzten Jahren oft von Skandalen begleitet – ob wegen Woody Allen, Johnny Depp oder Ulrich Seidl. 2024 sorgte TARDES DE SOLEDAD für Empörung: Noch bevor jemand den Film gesehen hatte, forderten Tierschutz- und Linksparteien dessen Ausschluss. Serras Werk, das letzendlich sogar mit der Goldenen Muschel (Concha de Oro) ausgezeichnet wurde, kommt nun in die Schweizer Kinos.
TARDES DE SOLEDAD
Ein aussergewöhnlicher, hypnotischer und ambivalenter Dokumentarfilm über den Stierkampf und den Tod.
TARDES DE SOLEDAD | SYNOPSIS
Albert Serra porträtiert Andrés Roca Rey, einen der grössten Stierkampfstars der Gegenwart, und zeigt die Entschlossenheit und Einsamkeit, die das Leben eines Toreros ausmachen. Mit dieser intimen Erfahrung liefert der Regisseur eine spirituelle Erkundung des Stierkampfs und enthüllt sowohl die flüchtige und anachronistische Schönheit als auch die primitive Brutalität des Kampfsports.
TARDES DE SOLEDAD | WEITERE STIMMEN
«Serras Film vermeidet eine rhetorische Haltung zu einer Praxis, die weiterhin Gegenstand kontroverser Debatten ist […] Stattdessen lässt er viel Raum für die eigenen emotionalen Reaktionen der Zuschauer, während er Roca Rey sowohl im als auch ausserhalb des Rings distanziert beobachtet.» – Variety | «TARDES DE SOLEDAD ist kein Film für jedermann, zu kompromisslos verweigert sich Serra einer Einordnung, zu unerbittlich und mit (zu) vielen sich wiederholenden Stierkämpfen blickt er auf ein kontroverses Ritual. Er illustriert die Faszination des tödlichen Kampfes – ohne Einordnung, ohne Distanzierung, aber auch ohne Verklärung. Statt einer moralischen Haltung präsentiert Albert Serra eine rohe, unverfälschte Beobachtung und fordert das Publikum heraus, sich selbst mit dem Gesehenen auseinanderzusetzen.» – Filmstarts
Rezension
Von Geri Krebs
TARDES DE SOLEDAD ist ein dialogarmer Dokumentarfilm, der während gut zwei Stunden – völlig kommentarlos – den gebürtigen Peruaner ANDRÉS ROCA REY porträtiert, Spaniens derzeit berühmtesten Torero. Der Stierkampf ist bekanntlich ein Thema, das in Spanien seit Jahrzehnten die Gemüter erhitzt. Bekannt für seine rätselhaften, schwer zugänglichen Kunstfilme wie HISTORIA DE LA MEVA MORT (Goldener Leopard, Locarno 2013) oder PACIFICTION (2022), hat Regisseur Albert Serra mit TARDES DE SOLEDAD erstmals in seiner langen Karriere einen Dokumentarfilm realisiert. Über mehr als drei Jahre hinweg begleitete er den schönen, unnahbar wirkenden jungen Mann bei insgesamt 14 Stierkämpfen. Aus dem dabei entstandenen, mehrere hundert Stunden umfassenden Filmmaterial schuf Serra in zweijähriger Arbeit ein Werk von grosser ästhetischer Brillanz und fremdartiger Schönheit.
Schönheit im Grauen
Man erlebt Roca Rey Hautnah bei der Ausübung seines grausam-blutigen wie lebensgefährlichen Handwerks – immer wieder in Szenen, bei denen einem der Atem stockt. TARDES DE SOLEDAD ist ein verstörender Film, der das brutale Ritual des Stierkampfs mit allen technischen Mitteln ästhetisiert – und zugleich in einer Unmittelbarkeit zeigt, wie man sie so wohl noch nie gesehen hat. Dabei bleibt Serra – wie bei all seinen früheren Arbeiten – nicht beim Thema selbst stehen. Ihn interessiert, wie er immer wieder betont, allein die Suche nach nie gesehenen Bildern. Und so ist sein Film, ganz im Sinne des Titels, auch eine stille Studie über die Einsamkeit seines Protagonisten. In einer Szene voller unfreiwilliger Komik sieht man Roca Rey in der Suite eines Madrider Luxushotels, wo er minutenlang von einem Assistenten unter grosser Kraftanstrengung in sein prunkvolles Gewand gezwängt wird. Wiederholt zeigt der Film – etwa, wenn der Torero nach dem Kampf wortkarg und erschöpft mit Kollegen und Helfern im Kleinbus ins Hotel fährt –, wie sprachlos diese Männerwelt ist, die im Kräftemessen mit dem Stier stets auch dem Tod ins Auge blickt.
Unerwartete Ehrung
Umso grösser war die Überraschung, dass die Jury von San Sebastián den Mut hatte, TARDES DE SOLEDAD mit dem Hauptpreis, der Concha De Oro, auszuzeichnen. Es war überhaupt erst das zweite Mal in der 72-jährigen Geschichte des Festivals, dass ein Dokumentarfilm diesen Preis gewann. Die international besetzte Jury, präsidiert von der baskischen Regisseurin Jaione Camborda, begründete ihre Entscheidung mit den Worten: «Die künstlerische Kraft und überwältigende Bildsprache dieses Werks lassen dem Publikum Raum zum Urteilen. Wir glauben an die Macht der Kunst, etwas zu bewegen – und dieses Werk ermöglicht es, über die Grenzen künstlerischen Ausdrucks nachzudenken: über Angst, Brutalität oder Maskulinität.»
Fazit: TARDES DE SOLEDAD ist ein Film, der exemplarisch zeigt, wozu dokumentarisches Kino fähig ist: Er erzeugt Spannung und Verstörung ohne moralische Urteile, vermittelt Schönheit und Poesie selbst in Momenten brutalster Unmittelbarkeit – und erschafft in jedem Bild Kunst, die nachhallt.