TÁR
Erschütternd und atemberaubend: Eine Geschichte, so komplex und glaubhaft erzählt, dass man «Tàr» für ein Bio-Pic hält.
Mit «Tàr» erzählt Regisseur, Autor und Produzent Todd Field die faszinierende Geschichte von Lydia Tár (Cate Blanchett), die als erste weibliche Chefdirigentin ein grosses deutsches Orchester leitet. Der Regisseur entwirft damit eine streitbare Frauenfigur und zeichnet gleichzeitig ein provokatives Porträt des klassischen Musikbetriebs.
TÁR | Synopsis
Lydia Tár hat es geschafft. Die begnadete Dirigentin hat sich in der von Männern dominierten klassischen Musikszene durchgesetzt und befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Mit ihrem Orchester plant sie eine mit Spannung erwartete Einspielung von Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie. Doch während der Proben gerät die Welt der Star-Dirigentin immer mehr ins Wanken: Nicht nur die Beziehung mit ihrer Konzertmeisterin (Nina Hoss) gestaltet sich zunehmend kompliziert, auch frühere Lebensentscheidungen, Anschuldigungen und ihre eigenen Obsessionen drohen sie einzuholen.
(Text: Universal Pictures)
Rezension
Von Madeleine Hirsiger
Sie ist schlichtweg eine Wucht: Die 53-jährige australische und mehrfach preisgekrönte Cate Blanchett zieht in «Tàr» sämtliche Register ihres schauspielerischen Könnens. Es ist vor allem die laute, nervöse, selbstsichere und vom Ehrgeiz getriebene Seite, die ihren Charakter ausmacht, eine Rolle, die Blanchet die gesamte Spielzeit von satten 158 Minuten durchzieht. Sie heisst Lydia Tàr und ist eine weltweit bekannte und anerkannte Stardirigentin. Und wer beruflich dieses Level erreicht hat, bei dem spielt das Leben eben auch in einer anderen Liga. Und das wird ihr zum Verhängnis.
Superstar Lydia Tàr
Der amerikanische Drehbuchautor und Regisseur Todd Fields beginnt seinen Spielfilm aussergewöhnlich und macht den sehr langen Abspann zum Vorspann. Damit will er den vielen Beteiligten Rechnung tragen – und es ist trotzdem etwas mühsam. Ein indigener Gesang im Hintergrund verkürzt ein bisschen die Zeit, er leitet über in die erste Szene. Lydia Tàr hat früher mal im Amazonasgebiet gelebt und die Gesänge indigener Völker erforscht. Ihre unglaublich lange berufliche Lebenslauf prasselt noch aus dem Off auf uns herein. Es ist die Introduktion zu einem Interview auf einer Bühne vor vollen Rängen. Es gibt nichts, was sie nicht gemacht oder gewonnen hätte. Und nun steht Lydia Tàr vor der Aufführung von Mahlers 5. Symphonie, die sie schlicht als «Mistery» bezeichnet. Grosser Applaus für den grossen Star.
Die DNA eines Machtmenschen
Sie ist faszinierend, diese energische Stardirigentin, die die Manipulation und das «über Leichen gehen» derart verinnerlicht hat, dass sie keinerlei Skrupel empfindet, wenn sie ihren langjährigen Kapellmeister oder ihre hilfsbereite Sekretärin entlässt. Sie lebt in einer Beziehung mit der ersten Orchester-Geigerin (Nina Hoss), die sie ebenfalls herumschiebt wie eine Schachfigur. Tàr geht fremd, nutzt ihre Machtposition aus, um die Karrieren ihrer Verflossenen zu zerstören, wenn sie will. Doch wie lange kann sie ihr Spiele noch weiterspielen?
#metoo
Eine neue Generation ist aufmerksam und hat ein Auge auf Lydia Tàr. Als Professorin an der renommieren Juilliard School in New York wird sie herausgefordert. Da gibt es einen jungen Mann, der nicht das liefert, was Tàr von ihm verlangt und schliesslich in ihre Mühle gerät. Er hat noch nie etwas von Johann Sebastian Bach gespielt, er mag ihn nicht, hält ihn für frauenfeindlich. Und ja, dann macht sie ihn auf raffinierte Weise fertig, was von einer Studentin verbotenerweise mitgefilmt wird und später auf Social Media gestellt wird.
Ein Alptraum beginnt
Die Stardirigentin wird in die Enge getrieben. Alpträume quälen sie in der Nacht, sie hört Geräusche, labyrinthische indigene Zeichen tauchen in der Wohnung auf, beim Joggen hört sie Kinder schreien, die sie nicht finden kann. Die Justiz wird auf die Vorwürfe gegenüber Tàr aufmerksam: der Niedergang – beruflich und gesellschaftlich – ist eingeleitet und führt sie zum bitteren Ende. Sie fällt total von der Rolle.
Fazit: «Tàr» ist ein dichter Film mit einer genialen Cate Blanchet und einer vielschichtigen Geschichte, die der deutsche Kameramann Florian Hoffmeister meisterlich ins Licht rückt. Dem Film hätte es aber gut getan, wenn er themenmässig weniger überladen wäre und auch die Beziehung zwischen der Dirigentin und ihrer Partnerin, die eine kleine Tochter hat, nicht wie ein flüchtiger Moment daher kommen würde.