Allein die Architektur des Adamant – zwischen Schiff, UFO und filigraner Holzbaute – ist spektakulär im Kleinen. So auch die Arbeit, die darauf verrichtet wird: Mitten in Paris bietet das «hôpital Adamant» Menschen mit psychischer Beeinträchtigung eine therapeutische Tagesstruktur. Der Dokumentarfilmer Nicolas Philibert widmet den Besucher:innen der Einrichtung mit SUR L’ADAMANT ein poetisches Langzeitporträt.
SUR L'ADAMANT
Synopsis
Das Adamant ist ein Tageszentrum, das im Herzen von Paris Erwachsene mit psychischen Störungen aufnimmt. Es bietet ihnen einen Betreuungsrahmen, der sie zeitlich und räumlich strukturiert und ihnen hilft, wieder mit der Welt in Kontakt zu treten. Das Team der Einrichtung wehrt sich gegen den Verfall und die Entmenschlichung der Psychiatrie. Der Film lädt ein, an Bord zu gehen und die Patient:innen und Pfleger:innen kennenzulernen.
Filmografie Nicolas Philibert
SUR L’ADAMANT
2022 | 109 Minuten
DE CHAQUE INSTANT
2018 | 105 Minuten
LA MAISON DE LA RADIO
2013 | 103 Minuten
NÉNETTE
2010 | 70 Minuten
ÊTRE ET AVOIR
2002 | 104 Minuten
LA MOINDRE DES CHOSES
1997 | 105 Minuten
LE PAYS DES SOURDS
1993 | 99 Minuten
Rezension
Von Doris Senn
Das Adamant – was zu Deutsch so viel wie «hartnäckig», «störrisch» heisst – gibt sich in der Form wie ein Lastkahn mit vielen Fenstern, die sich via Holzlamellen und Scharniere öffnen lassen. Im Innern der Einrichtung entstehen dadurch interessante Lichtspiele und Wasserreflexionen. Die Konstruktion steht auch symbolhaft für das Ineinander von Aussenwelt und Safe Space, wo Notionen wie «verrückt» oder «normal» ihre Gültigkeit verlieren und sich gegenseitig durchdringen. Für Aussenstehende ist längst nicht immer klar, wer zu Besuch ist und wer dort therapeutisch wirkt …
Schwimmender «Safe Space»
Der 72-jährige Dokumentarfilmer Nicolas Philibert, der schon 1995 in seinem LA MOINDRE DES CHOSES einen Blick hinter die Kulissen einer psychiatrischen Klinik warf, begibt sich mit SUR L’ADAMANT in medias res, lässt die Menschen, die dort ein und aus gehen, für sich selbst sprechen und gibt ihnen Raum, um ihre Persönlichkeit zu entfalten. Oft allein mit der Kamera unterwegs, kann Philibert auf einer Atmosphäre des
Vertrauens aufbauen. Es gibt im Film keinen Kommentar, keine Fragen, keinen Kontext. Dafür die Erzählungen der Menschen. Und bemerkenswerte Selbstreflexionen. Etwa von François, einem drahtigen Fünfziger, der den Song «La bombe humaine» zu Beginn des Films in eine versammelte Runde schmettert. Der Kultsong aus den 70ern, der wohl kaum einen kongenialeren Interpreten finden könnte, thematisiert auch Beruhigungs- und Aufputschmittel, während François irgendwann im Lauf des Films feststellt, dass er ohne seine Medikamente unfähig wäre, ein Gespräch zu führen, und sich ansonsten für Jesus halte … Oder Frédéric, der sich mit seinen weissen Locken bedächtigen Schrittes durch die Räume bewegt, einen Papierstoss unter dem Arm, um schliesslich auf einer Hammondorgel zauberhaft-versponnene Chansons zum Besten zu geben und über Wahnsinn und Genie zu philosophieren.
Improvisation als Struktur
Der Film lässt sich treiben, Personen tauchen auf, verschwinden wieder – ohne nachvollziehbare Muster oder vorgegebenes Konzept. Philibert wahrt respektvolle Distanz und bezeichnet die Struktur seines Films als «Improvisation», die kadriert wird von der Einheit des Orts – der Adamant – und ihren Besucher:innen. Damit zeichnet SUR L’ADAMANT eine libertärere Anordnung aus als ÊTRE ET AVOIR (2004), jenem grossartigen Porträt Philiberts über eine Gesamtschule in der Auvergne im Lauf der Jahreszeiten – und bleibt dennoch denselben Prinzipien der stillen Beobachtung verpflichtet.
Fazit: Altmeister Nicolas Philibert schafft mit SUR L’ADAMANT eine herzerwärmende Hommage an Menschen, die nicht in gängige Muster passen, aber durch die vorbildhafte Einrichtung eine Anlaufstelle finden. Als einziger Dokumentarfilm nebst zig Spielfilmen im Wettbewerb erhielt SUR L’ADAMANT überraschend in Berlin den Goldenen Bären zugesprochen und bildet den ersten Teil einer geplanten Trilogie über psychiatrische Institutionen, an der Philibert bereits (weiter)arbeitet.