Während die gesamte Zukunft seiner Familie davon abhängt, ob ihrem Asylantrag stattgegeben wird, träumt ein Junge namens Furkan davon, eine Rakete zu bauen, um alles hinter sich zu lassen. Ein poetischer Film, der von der Bedeutung von Träumen für die Realität zeugt. Für arttv.ch hat Filmjournalistin Doris Senn sich mit der jungen Regisseurin Dea Gjinovci getroffen und sie zu ihrem dokumentarischen Experiment befragt.
Réveil sur Mars
Wie ein 10-jähriger Roma-Junge versucht, mit der mysteriösen Krankheit seiner beiden Schwestern zurechtzukommen.
Interview mit der Regisseurin Dea Gjinovci
Woher stammt die Idee für deinen Film «Réveil sur Mars»?
Dea Gjinovci: Auf das Thema, das sogenannte Resignationssyndrom, stiess ich durch einen Artikel im «New Yorker» im April 2017. Dabei ging es um Flüchtlingskinder und -jugendliche in Schweden, die ins Koma fielen, nachdem ihre Familien erfahren hatten, dass sie in ihr Heimatland zurückmüssen. Das Beschriebene ging mir nicht mehr aus dem Kopf, und ich habe mich wieder und wieder gefragt, in welchem ‹Universum› die Betroffenen sich mental wohl aufhielten und ob sie bewusst oder unbewusst ihren Zustand wahrnahmen. Beschrieben war darin auch die Familie Demiri, die gleich zwei Töchter hatte, die seit Jahren im Koma lagen – die Familie stammte aus Kosovo. Dabei gab es für mich eine unmittelbare kulturelle Affinität – mein Vater ist aus dem Kosovo, meine Mutter aus Albanien. Ich habe die Ärztin kontaktiert, die verschiedene betroffene Familien betreut, und sie hat mir die Erlaubnis gegeben, die Familie Demiri kennenzulernen. Sie haben mich ganz besonders berührt, durch die Liebe und die gegenseitige Unterstützung, die ich unter ihnen spürte. Da wiederum interessierte mich der Blickwinkel der Kinder – insbesondere jener von Furkan: wie er das Syndrom und die traumatischen Ursachen, die dahinterstanden, wahrnahm.
Wie viel Zeit haben Sie mit der Familie verbracht?
Insgesamt waren es etwa zwölf Wochen – verteilt über eine Dauer von eineinhalb Jahren.
Wann ist die Struktur des Films entstanden, in der Furkan als Protagonist uns durch die Geschichte führt, mit seinem Projekt, eine Rakete zu bauen und auf den Mars zu fliegen? War dies von Beginn weg klar?
Dies geschah in der Phase, in der wir nach Drehorten suchten. Furkan erwies sich schnell als äusserst sensibler Junge, der sehr betroffen war davon, was mit seinen Schwestern passierte. Er selbst steckte zu der Zeit in einer Art kindlichen Depression und drückte durch seine Haltung aus, was er anders nicht ausdrücken konnte – samt seiner grossen Lust, sich all dem zu entziehen. Dazu kam, dass er sich schon immer sehr für den Weltraum und die Astronomie interessiert hatte. Doch erst als ich mit Furkan und seinem Bruder Resul mitging und sie mir die Orte im Dorf und in den umliegenden Wäldern zeigten, wo sie üblicherweise herumstreiften, wurde mir bewusst, dass sie sich ihrerseits ein Universum und eine Vorstellungswelt geschaffen hatten. So habe ich mich Furkan angenähert und habe versucht zu verstehen, was genau er durchlebte. Da entschied ich auch, den filmischen Kodex der rein dokumentarischen Beobachtung zu verlassen und mit der Realität, in der er lebte, auch etwas zu ‹spielen›.
Wie muss ich mir das vorstellen?
Zu Beginn sagte mir Furkan, dass er auf den Mars gehen möchte, um dort zu leben, um das alles hier zurückzulassen und seine Probleme zu vergessen. Er war in einem Zustand der Verzweiflung und distanzierte sich von der Realität, in der er lebte. So kamen wir im Gespräch auf die Rakete, die es brauchen würde, um auf den Mars zu fliegen. Mit dem Plan des Rakentenbaus fand er ein Ventil, um sich auszudrücken und die Abwesenheit seiner Schwestern zu verarbeiten. Oder auch sich wiederzufinden an einem Ort, der zwischen Realität und Vorstellung liegt. Man muss wissen, dass er erst fünf, sechs Jahre alt war, als seine erste und nicht viel später auch seine zweite Schwester ins Koma fiel. Er hatte also nur bruchstückhafte Erinnerungen an sie und empfand jetzt vor allem einen Mangel: ihr Fehlen, ihre Abwesenheit. Der Flug zum Mars war da, um dies abzumildern und ihm die Kraft zu geben, sich aus der Starrheit zu lösen. Einen Schritt weit aus seiner Verzweiflung herauszukommen.
Wenn man dann zum Ende des Films die fertige Rakete im Wald sieht und Furkan, wie er in seinem blinkenden Raumanzug in der Maschine Platz nimmt, ist das ein wunderbar magischer, überhöhter Moment! Doch Furkan wird die Rakete kaum alleine gebaut haben …
Der Bau vollzog sich in verschiedenen Etappen. Zu Beginn waren es Zeichnungen, dann ein Modell aus Pappe. Für Furkan war es enorm wichtig, das Projekt zu konkretisieren, und da ich handwerklich wenig begabt bin, habe ich einen befreundeten Künstler hinzugezogen, der mit Recycling arbeitet und dann mit ihm, mit Furkan und Resul alle Schrottplätze rund ums Dorf abgeklappert und Karosserieteile, Kabel und unglaublich vieles mehr gesammelt hat. So entstand gemeinsam mit Furkan, der seine eigenen Ideen bei der Konstruktion einbrachte, und mit Resul im Wald die Rakete. Dieses erzählerische Element sollte nicht zuletzt etwas Leichtigkeit in den Film bringen, Zuversicht und ein Gefühl der Freiheit durch das letztendliche Abheben aus einer sehr schwierigen Realität. Es spiegelt auch die Hoffnung wieder, die Furkan hat seine Schwestern aufwachen zu sehen. Diese Szene machte ihn zu dem Astronauten, den er in seinen Träumen verkörperte.
Ihr Film endet mit einem kleinen grossen Happy End, wachen die Schwestern doch tatsächlich auf. Wie sieht ihr Leben seither aus?
Ibadeta, die rund drei Jahre im Koma lag – deutlich weniger lang als Djeneta –, hat ihr Leben nach relativ kurzer Zeit wiederaufnehmen können: Nach rund sechs Monaten begann sie wieder zu sprechen und auch zu gehen, sie erinnerte sich sowohl ans Schwedische wie auch ans Albanische und sogar an Kindheitserinnerungen. Sie übt einen Teilzeitjob aus und nimmt ihre Ausbildung wieder auf. Für Djeneta, die rund fünfeinhalb Jahre im Koma lag, war es sehr viel schwieriger: Das Gehen fällt ihr immer noch schwer, alles ist sehr anstrengend für sie. Sie kämpft mit Fatigue und muss viel schlafen – wobei es jeweils schwierig ist, sie wieder aus dem Schlaf zu wecken. Auch die Depression ist ein Thema. Ich denke, bei ihr wird es noch einige Zeit dauern, bis sie sich ganz erholt hat.
Und wie sieht es mit der Familie aus – hat sie inzwischen ihren Flüchtlingsstatus erhalten?
Nach Ende des Films im November 2020, wurde ihr Gesuch erneut abgelehnt. Nach Ablauf ihrer Aufenthaltserlaubnis haben sie vor ein paar Monaten erneut ein Gesuch gestellt. Gemäss ihres Anwalts ist es nun, da sie schon so viele Jahre in Schweden leben, aber praktisch unmöglich, sie des Landes zu verweisen.
Ein Interview von Doris Senn
Réveil sur Mars | Die Synopsis
Seine Schwestern und ihn auf den Mars bringen – das ist das Ziel des astronomiebegeisterten Jungen Furkan. In Horndal, einer kleinen Stadt in Schweden, stehen sie aber vor einem medizinischen Rätsel, das ihr Leben tagtächlich beeinflusst. Die beiden ältesten Töchter, Ibadeta und Djeneta, fielen vor mehr als drei Jahren nacheinander ins Koma, Opfer des «Resignation Syndroms». Ihre Körper haben auf mysteriöse Weise aufgehört zu funktionieren. Die Familie versucht immer noch, weit entfernt von ihrem Heimatland Kosovo ein normales Leben wieder aufzubauen.
Réveil sur Mars | Die Stimmen
«Berührend, originell und lehrreich» – Fabien Lemercier, cineuropa | «Dea Gjinovcis stellt mit ‹Réveil sur Mars›, weder ein Flüchtlingsdrama noch eine medizinische Fallgeschichte vor. Sie erzählt nicht immer, aber oft aus der Sicht von Furkan, der bei allen Erwachsenensorgen, die ihn umgeben, ein Kind bleibt. Zur Schule geht, sich im Freien herumtreibt und mit Fundstücken vom Autofriedhof eine Rakete baut, in der er seine Schwestern zum Mars fliegen will. ‹Réveil sur Mars› ist ein geduldig beobachteter, einfühlsamer und berührender Film, in dem es der Regisseurin mit leichter Hand und wohltuender erzählerischer Gelassenheit gelingt, gesellschaftspolitisch schwierige und schwere Themen abzuhandeln.» – Irene Genhart, cinema.ch | «‹Réveil sur Mars› ist eine eindringliche, mitfühlende Schilderung des Durchhaltens unter unvorstellbaren Umständen.» – Sheri Linden, The Hollywood Reporter
Dea Gjinovci wurde in Genf geboren und studierte Wirtschaft und Anthropologie in London. Sie arbeitet an Filmprojekten oder als freie Journalistin für Schweizer Medien oder angelsächsische Medien. 2017 führte sie bei ihrem ersten Film «Without Kosovo» Regie. Er wurde im selben Jahr auf dem Dokufest-Festival (Kosovo) mit dem Preis für den besten nationalen Film ausgezeichnet, gewann beim Global Migration Film Festival in Genf und beim Cine Zaragoza Festival.