Ein Fall wahnsinniger Wirklichkeit: Christian Granderat, Fiction-Chef beim NDR, las das Buch von Murat Kurnaz über dessen Jahre im US-Lager Guantánamo und motivierte Regisseur Andreas Dresen («Gundermann»), darüber einen Spielfilm zu drehen. Zusammen mit Drehbuchautorin Laila Stieler entwickelte und inszenierte er das Drama mit Murats Mutter Rybiye Kurnaz im Zentrum, die mit dem Bremer Anwalt Bernhard Docke um die Freilassung des Häftlings ohne Anklage und Prozess kämpft.
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush
Eine Mutter kämpft wie einst Don Quichotte gegen Windmühlen, hier gegen Vorverurteilung, Militärgewalt und Justiz.
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush | Synopsis
Der türkischstämmige Murat aus Bremen wird in Karatschi verhaftet, von Amerikanern des Terrors verdächtigt und 2002 nach Guantánamo verschleppt. Als Murats Mutter Rabiye Kurnaz davon erfährt, unternimmt sie alles, um ihren Sohn freizubekommen. Der Bremer Menschenrechtsanwalts Bernhard Docke steht ihr juristisch und menschlich bei. Zusammen gehen die beiden «Freiheitskämpfer» bis zum US Supreme Court in Washington. Andreas Dresens packender Spielfilm um Recht, Gerechtigkeit und Würde wurde an der Berlinale 2022 mit Preisen für die Hauptdarstellerin Meltem Kaptan und für das Drehbuch von Laila Stieler ausgezeichnet.
Andreas Dresen wurde 1963 in Gera geboren. Erste praktische Erfahrungen beim Film als Regieassistent bei der DEFA. Er studierte Regie an der Potsdamer Filmhochschule HFF Konrad Wolf und ist seit 1992 als Autor und Regisseur für Film, Theater und Oper tätig. Sein Film «Halbe Treppe» wurde ein weltweiter Erfolg und gewann 2002 unter anderem den Silbernen Bären der Berlinale. Für «Halt auf freier Strecke» wurde Dresen 2011 in Cannes mit dem Preis der Reihe «Un Certain Regard» ausgezeichnet. 2018 kam «Gundermann» in die Kinos, der sechs deutsche Filmpreise gewann, darunter Bester Film. Mit «Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush» ist Dresen zum vierten Mal im Wettbewerb der Berlinale vertreten.
Rezension
von Rolf Breiner
Der Terrorakt 9/11 – der Anschlag auf das World Trade Center in New York 2001 – trat eine Welle amerikanischer Vergeltungsmassnahmen und Aktionen los. Im Zuge der weltweiten Fahndung nach Tätern, Helfern und Hintermännern wurde jeder, der auch nur klitzeklein verdächtigt wurde, manisch verfolgt und inhaftiert – egal ob berechtigt, zufällig oder unschuldig. Teufel komm heraus, Schuldige mussten her! Pech, wer zur falschen Zeit am falschen Ort war?
Plötzlich in Guantánamo
Der junge Mann aus Bremen, Murat Kurnaz, 19 Jahre alt, interessierte sich intensiv für den Islam, liess sich einen Bart wachsen. Er ahnte nichts Böses, als er in Karatschi, Pakistan, weilte, um den Koran zu studieren. Der Kontakt daheim mit einem Bekannten, Selçuk Bilgin, hatte ihn verdächtig gemacht. Bei einer Routinekontrolle der Polizei in Pakistan wurde er festgenommen, vom Militär dann gegen ein Kopfgeld an die US-Streitkräfte in Afghanistan ausgeliefert, schliesslich im Januar 2002 von den Amerikanern ins Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba verschleppt. Jahr um Jahr war er dort Verdächtigungen, Folter und Ungewissheit ausgesetzt. Es gab keine offizielle Anklage, keinen Prozess.
Neue Titelheldin
Christian Granderath, Chef der Fictionabteilung beim NDR, empfahl Filmregisseur Andreas Dresen das Buch, das der Guantánamo-Häftling nach seiner Deutschland-Rückkehr 2007 geschrieben hatte: «Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantánamo». Stefan Schaller verfilmte es 2013 mit Sascha Alexander Geršak als US-Gefangenen Murat. Einen anderen und durchaus überzeugenderen Zugang zum Stoff fand Filmer Dresen zusammen mit Autorin Leila Stieler. Sie machten Murats Mutter zur Titelheldin ihres Spielfilms: «Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush». Und das ist gut so! Der vorverurteilte Murat (Abdullah Emre Öztürk) ist zwar Stein des Anstosses, die Figur, um die sich alles dreht, doch er bleibt ein Schemen im Hintergrund – bis auf Eingangs-und Schlusssequenzen. Es ist seine Mutter, grandios verkörpert durch Meltem Kaptan, die wie einst der legendäre Don Quichotte gegen Windmühlen, sprich Militär, Politik und Justiz kämpft. Der «Sancho Panzo» heisst hier Bernhard Docke (Alexander Scheer) ist Bremer Menschenrechtsanwalt und steht ihr zur Seite – durch Dick und Dünn. Gemeinsam «stieren» sie das Vorhaben durch, gehen ihr Ziel an: die Freilassung des terrorverdächtigen Murat. Ihr Kampf um Recht und Gerechtigkeit und Menschenwürde wurde auch in Washington und Berlin zur Kenntnis genommen, aber … Die Rolle deutscher Behörden vom Geheimdienst bis Berlin ist nicht sauber, aber das ist eine andere Geschichte.
Menschenrechte und Solidarität
Die Partnerschaft Mutter-Anwalt, der Glauben an Menschenrecht und eine unglaubliche Solidarität sind Kernpunkte dieses Spielfilms, der so glaubhaft und überzeugend wie eine Dokumentation ist. Dabei kommt der Humor (zwischen Rabiye und ihrem Mitkämpfer) nicht zu kurz und würzt das Drama. Erstaunlich, auch die äusserliche Ähnlichkeit der Hauptfiguren stellt man beim Nachspann fest. Es ist ein ausserordentlicher Verdienst von Dresen/Stieler, dass sie uns Folterszenen, Guantámano-Kitzel bzw. Horror ersparen. Man muss nicht immer alles zeigen, um dennoch im Bild zu sein. Ein engagierter Film der Meisterklasse!
Die Chronologie des Falls
OKTOBER 2001: Der Schiffsbaulehrling Murat Kurnaz (19) fliegt als türkischer Staatsbürger mit deutscher Aufenthaltsgenehmigung von Frankfurt/Main nach Pakistan. Er will Koranschulen besuchen, um – nach eigenen Angaben – im darauffolgenden Winter mit gestärktem muslimischen Glauben seine türkische Ehefrau nach Deutschland zu holen. Die USA starten den Krieg gegen Afghanistan. Rabiye Kurnaz wird in Bremen bei der Polizei vorstellig, gibt bereitwillig Auskunft über ihren Sohn und erfährt von Vorwürfen gegen ihn. Die Staatsanwaltschaft leitet gegen Murat Kurnaz ein Verfahren ein, der Anfangsverdacht lautet auf «Bildung einer kriminellen Vereinigung»
DEZEMBER 2001: Murat Kurnaz wird verdachtsunabhängig in Pakistan festgenommen und von der dortigen Polizei gegen 3000$ an US-Streitkräfte in Afghanistan übergeben. Die USA hatten mit Flugblättern in Pakistan Kopfgelder für die Übergabe von Terrorverdächtigen angeboten.
JANUAR 2002: Die rot-grüne Bundesregierung erfährt, dass ein in Deutschland lebender Terrorverdächtiger namens Murat Kurnaz in Afghanistan in US-Gewahrsam ist. Das Bundeskriminalamt kooperiert mit dem FBI beim Austausch von Informationen. Erste Fotografien aus dem US-Straflager Guantanamo auf Kuba werden öffentlich. Die Insassen dort werden nicht als Kriegsgefangene beziehungsweise inhaftierte Zivilbürger anerkannt. Sie werden von der US-Regierung, entgegen dem Völkerrecht und der US-Verfassung, komplett rechtlos gestellt. Erste deutsche Medien haben Kontakt mit Rabiye Kurnaz aufgenommen und berichten über den Fall. Ohne Kenntnis von Hintergrund, etwaigem Tatverdacht, Ort und Umständen der Inhaftierung wird Kurnaz zum «Bremer Taliban» gestempelt.
FEBRUAR 2002: Murat Kurnaz ist nach Guantanamo überstellt worden. In Deutschland schreibt Mutter Rabiye an Aussenminister Joschka Fischer. Er antwortet, dass die USA, angesichts der türkischen Staatsangehörigkeit, Deutschland nicht als Verhandlungspartner akzeptieren. Die Mutter sucht ebenfalls Unterstützung beim Internationalen Roten Kreuz und der türkischen Botschaft.
APRIL/MAI 2002: Nachdem Rabiye Kurnaz per Brief ein erstes persönliches Lebenszeichen erhalten hat, in dem ihr Sohn davon berichtet, dass es «nicht einmal einen Anhaltspunkt für meine Verhaftung gibt», sucht sie die Kanzlei des Bremer Rechtsanwalts Bernhard Docke auf. Er übernimmt das Mandat.
SEPTEMBER/OKTOBER 2002: Drei Beamte des Bundesamts für Verfassungsschutz und des Bundesnachrichtendienstes befragen Murat Kurnaz vor Ort in Guantanamo. Sie kommen zum Schluss, dass Kurnaz zur falschen Zeit am falschen Ort war und kein Terrorverdacht gegen ihn bestehe. Demnach würden ihn auch die USA für unschuldig und ungefährlich halten. Eine von den USA zum damaligen Zeitpunkt angestrebte Freilassung Kurnaz’ nach Deutschland erfolgt nicht, da dies vom Kanzleramt und den Spitzen der deutschen Sicherheitsorgane abgelehnt wurde. Stattdessen wird ein Verfahren eingeleitet, um Kurnaz das Aufenthaltsrecht zu entziehen und damit auch die Rückkehr nach Deutschland zu vereiteln. Begründung: Kurnaz halte sich länger als sechs Monate ausserhalb Deutschlands auf und habe keine Verlängerung seiner Aufenthaltsrechte beantragt. Diese Umstände werden erst Jahre später bekannt. Bernhard Docke informiert regelmässig die deutsche Öffentlichkeit über den Stand der Angelegenheit, vor allem über die Rechtswidrigkeit der von den USA behaupteten Rechtlosigkeit. Familie Kurnaz bleibt ohne persönlichen Kontakt zu Murat.
2003: Ein Jahr vergeht ohne juristische Fortschritte.
Murat wird, wie er in seinem Buch «Fünf Jahre meines Lebens» schreibt, auf unmenschlichste Art gefoltert. Erst zwei Jahre später wird das Ausmass aller Guantanamo-Praktiken öffentlich.
MÄRZ 2004: Rabiye Kurnaz und Bernhard Docke reisen gemeinsam mit Angehörigen anderer Guantanamo-Häftlinge nach Washington. Es geht in öffentlichen Aktionen und Medienauftritten darum, Druck auf die US-Politik und US-Justiz auszuüben, um Gefangenen wie Murat Kurnaz in Guantanamo das Recht zuzugestehen, gegen ihre Inhaftierung zu klagen. In Kooperation mit US-Bürgerrechtsorganisationen beteiligt sich Rabiye Kurnaz für ihren Sohn an einer Musterklage vor dem Supreme Court.
APRIL 2004: Rabiye Kurnaz und Bernhard Docke reisen erneut nach Washington, um an der Anhörung vor dem Supreme Court teilzunehmen.
JUNI/JULI 2004: Ende Juni 2004 entscheidet der Supreme Court im Sinne der klagenden Gefangenen gegen die Bush-Regierung. Daraufhin wird Prof. Baher Azmy beauftragt, Kurnaz fortan als US-Anwalt vor US-Gerichten zu vertreten. Anfang Juli wird vor dem Federal District Court in Washington eine Klage auf Haftprüfung, Akteneinsicht und Besuchsrecht eingereicht.
OKTOBER 2004: Kurnaz erhält erstmals Besuch von Prof. Azmy. Azmy und Docke erhalten eine Akte, die die Anschuldigungen gegen Kurnaz enthalten. Die Vorwürfe sind teilweise absurd und allesamt leicht zu widerlegen. Trotzdem klassifiziert ein Militärtribunal in Guantanamo Kurnaz als «Feindlichen Kämpfer».
JANUAR 2005: Bundesrichterin Joyce Hens Green erklärt in einem Urteil die Illegalität der Inhaftierungen in Guantanamo. Vor allem den Fall Kurnaz hebt sie hervor, hier sei Entlastendes ignoriert worden, hierfür hätte es keinen Haftbefehl gegeben. Die US-Regierung legt Berufung ein.
MÄRZ 2005: Medien berichten, Murat Kurnaz solle in die Türkei ausgeliefert werden. Die Familie reist mit den Anwälten Docke und Azmy dorthin. Der Vorgang entpuppt sich als Gerücht, Murat Kurnaz bleibt weiterhin in Guantanamo.
NOVEMBER/DEZEMBER 2005: Regierungswechsel in Deutschland. Der einstige Kanzleramtschef und massgeblich in den Fall Kurnaz involvierte Frank-Walter Steinmeier wird Aussenminister. Das Verwaltungsgericht Bremen stellt die Rechtswidrigkeit der Entziehung des Aufenthaltsrechts für Murat Kurnaz fest. Bernhard Docke schreibt an die neue Kanzlerin Angela Merkel. Sie antwortet und verspricht, sich für die Freilassung einzusetzen. Ab Januar 2006 laufen deutsch-amerikanische Verhandlungen mit dem Ziel der Überstellung Kurnaz‘ nach Deutschland.
24. AUGUST 2006: Murat Kurnaz trifft auf dem US-Militärstützpunkt in Ramstein ein und wird von seiner Familie und seinen Anwälten begrüsst.
DANACH:
Nach seiner Freilassung sagte Murat Kurnaz als Zeuge vor zwei Bundestags-ausschüssen aus: Dem BND-Untersuchungsausschuss zur Frage, ob Deutschland seine frühzeitige Freilassung vereitelte sowie vor dem Verteidigungsausschuss zur Frage, ob er von KSK-Soldaten in Kandahar misshandelt wurde. Weiter wurde er als Zeuge vom Europaparlament sowie vom US-Kongress vernommen.
Alle gegen Kurnaz erhobenen Vorwürfe und Anschuldigungen haben sich als falsch erwiesen, das von der Staatsanwaltschaft Bremen eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde mangels Tatverdacht eingestellt. Murat Kurnaz wurde für sein erlittenes Unrecht bis zum heutigen Tag weder entschädigt noch wurde er offiziell um Entschuldigung gebeten. Viele der für sein Schicksal Mitverantwortlichen machten Karriere. Die für die Folter in Guantanamo Verantwortlichen wurden nicht belangt. Gemeinsam mit seinem Anwalt Bernhard Docke hat Kurnaz in einer Vielzahl von Veranstaltungen an Universitäten und Schulen sowie unzähligen Interviews mit seinem Schicksal auf die Bedeutung der Menschenrechte hingewiesen. Murat Kurnaz lebt heute als Vater dreier Kinder in Bremen, ist Sprach- und Kulturmittler in einem Jugendprojekt und unterrichtet Sport. Song-Poetin Patti Smith widmete Murat Kurnaz ihr Lied «Without Chains». 2013 kam der deutsche Spielfilm «Fünf Jahre Leben» von Regisseur Stefan Schaller ins Kino. Es geht darin um Kurnaz‘ Guantanamo-Erlebnisse. Auch Anfang 2022, nach inzwischen 20 Jahren, existiert das US-Straflager in Guantanamo weiterhin. 39 Gefangene (Stand: Januar 2022) werden noch festgehalten. Laut Umfragen sagen 56 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung, es sei gut so.
QUELLEN: Murat Kurnaz, Bernhard Docke, Buch «Fünf Jahre meines Lebens» (Murat Kurnaz, 2007/Verlag Rowohlt Berlin), Amnesty International, ARD Mediathek, Dresdner Neueste Nachrichten