Der Schweizer Dokumentarfilm begleitet fünf ukrainische Athlet:innen des paralympischen Teams, die täglich ihre physischen und psychischen Grenzen ausloten, während im Zuge der Krim-Annexion 2014 die politischen Grenzen hin- und hergeschoben werden. Wird es ihnen gelingen, sich unter diesen neuen historischen Geschehnissen für die nächste Paralympiade zu qualifizieren?
Pushing Boundaries
Eine inspirierende Filmreise, die von Mut, Widerstand und Sportsgeist entgegen aller Widrigkeiten erzählt.
Pushing Boundaries | Synopsis
Pushing Boundaries war der Slogan der paralympischen Spiele im Russischen Sotschi. Während der völkerverbindenden Wettkämpfe setzten die Russen den Slogan militärisch um und annektierten die Halbinsel Krim. Damit verlor das Ukrainische Team über Nacht den Zugang zu ihrem neuen Trainingszentrum auf der Krim. Für den Leiter des Nationalteams ein schwerer Schlag: er hatte das Zentrum über Jahre aufgebaut und sein Team an die Weltspitze des Behindertensports gebracht. Doch durch das Amputieren des Landesterritorien wird das Training für das Team zur grossen Herausforderung und die Grenze zwischen Sport und Politik verschwommener.
Pushing Boundaries | Stimmen
«Lesia Kordonets gelingt ein wunderbar persönlicher Film, der zeigt, dass Sport viel mehr ist als nur schneller, weiter, höher. Sport ist ein Überlebens-Elixir.» – Jan Sebening, DOKfest München
Interview mit der Regisseurin Lesia Kordonets
von Silvia Posavec
Wie ist die Filmidee zu «Pushing Boundaries» entstanden?
Mein Ausgangspunkt war die Krim-Annexion 2014. Da wurden die Grenzen eines souveränen Landes verletzt. Das Gefühl war damals: Die Büchse der Pandora wurde geöffnet. Jetzt kann alles passieren, es gibt keine Hürden mehr für diese Regierung in Russland. Die Invasion fand zeitlich zwischen der Olympiade und der Paralympiade in Sochi statt, als die ganze Welt Russland als Gastgeber feierte. Dieser Gastgeber wurde aber zum Aggressor. Ich wusste, dass das ukrainische Nationalteam ihr Trainingszentrum auf der Krim hat. Und es war sehr dramatisch zuzusehen, wie das Team vor Ort in Sotschi schockiert versucht zu demonstrieren, aber allen anderen war es wichtiger, dass das Fest weitergeht, denn: The show must go on … Das Ausmass der Situation wurde unterschätzt. In diesem Moment ist bei mir der Wunsch entstanden, diese Menschen ein Stück weit zu verfolgen, bei ihrem Training und im Alltag bis zu den nächsten Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016.
Ihre Protagonist:innen kannten Sie also zuerst aus den Medien, wie haben Sie sie ausgewählt?
Das Team selbst hat mich schon früher interessiert. Sie sind mir bei den Spielen in London aufgefallen und davor auch in Peking – weil sie so gut waren, im Gegensatz zum olympischen Team! Der Kontrast war für mich so unerklärlich: Sie waren erfolgreich, aber in den Medien nicht so bekannt. Mir war bewusst, dass sich in den Geschichten der paralympischen Athlet:innen der aktuelle historische Kontext widerspiegeln würde. Als Setting hatte ich immer so ein Kausalitätsdreieck im Kopf: die Krimannexion, der Donbas-Krieg und die Binnenflüchtlinge. Nach der russischen Invasion waren das alles neue Erscheinungen für die Ukraine, alle mussten sich damit irgendwie noch zurechtfinden. Deswegen hatte ich eine Art inneres Raster und wusste, nach welchen Protagonist:innen ich suche. Bei meiner Recherche habe ich viele Athlet:innen kennengelernt und habe dann entsprechend die ausgewählt, die dieses Schicksal tragen.
War es schwer, sie davon zu überzeugen, mitzumachen?
Nein, eigentlich nicht. Von Anfang an waren alle mit dabei.
Aber wahrscheinlich ist es im Laufe der Dreharbeiten zu einigen Überraschungen mit den Sportler:innen gekommen, oder?
Sicher! Bei zwei wusste ich bis zuletzt nicht, ob sie im Film bleiben können, es gab überraschende Wenden in ihren Leben, Aber ich möchte den Film nicht spoilern, deswegen erläutere es nicht näher. Grundsätzlich muss man sich möglichst gut vorbereiten, aber trotzdem darauf gefasst sein, dass alles anders kommen kann. Es gab ständig irgendwelche Überraschungen während des Drehs. Wir sind in heikle Situationen geraten und wurden nur durch Glück nicht festgenommen!
Wie lange haben Sie am Film gearbeitet?
Von der Idee bis zur Premiere waren es sechs Jahre. Die Schnittphase war für mich psychologisch schwieriger als der Dreh. Obwohl ich immer gedacht habe, dass die Drehphase die grössere Herausforderung sein wird. Ich musste am Anfang diese Drehzugänge schaffen, sei es im ukrainischen Sportministerium, in den kriegsnahen Regionen und auf der okkupierten Krim oder selbst an den Paralympischen Spielen in Rio. Ein Jahr lang war ich auf einer Nonstop-Expedition zwischen verschiedenen Städten und Ländern. Als Dokumentarfilmemacher ist man für die umgebende Realität sehr empfänglich, man ist wie eine Antenne, die alle Vibrationen durch sich laufen lässt. Was wir erlebt haben, hat tiefe Abdrücke bei mir hinterlassen. Als ich nach dem Dreh wieder in der Schweiz war, dachte ich, ich sei zurück im sicheren Hafen: Ich schlafe wieder auf einer guten Matratze, ich hab guten Kaffee und auch Leute um mich, die ich immer etwas fragen konnte. Aber trotzdem war die Schnittphase viel schwieriger für mich.
Welche Rolle spielt es für Sie, dass Sie als Regisseurin in der Schweiz wohnen und wäre der Film auch entstanden, wenn Sie in der Ukraine leben würden?
Die kurze Antwort ist: wahrscheinlich nicht. Obwohl ich kann das nicht ganz beurteilen. Ich denke aber, die geografische Distanz hat mir eher geholfen, die Geschichte aus einer anderen Perspektive zu erzählen.
Und trotzdem war der Schnitt schwieriger als die Dreharbeiten in der Ukraine …
Ja. Denn es ist eine Herausforderung, ein Multi-Porträt-Film zu schneiden, in dem verschiedene Erzählstränge und Spannungsbögen ausbalanciert werden müssen. Ich wollte nicht nur die sportliche Entwicklung der Protagonist:innen erzählen, sondern auch das Private– samt des komplexen Umfelds – miteinbinden. Denn die internationalen Zuschauenden müssen den Konflikt jeder der Personen verstehen. Ich als Ukrainerin habe ganz anderes Hintergrundwissen. Seit Februar 2022 weiss man vielleicht ein bisschen mehr über die Ukraine, aber davor konnte ich davon ausgehen, dass man nicht so viel gehört hat.
Hauptsächlich ist es aber ein Film über Sportler:innen, die sich auf die nächsten Paralympischen Spiele vorberieten – es geht also um Menschen mit Behinderungen. Ich finde, Sie haben da einen sehr intuitiven und offenen Zugang zum Thema entwickelt. Haben Sie sich darüber viele Gedanken gemacht?
Also, dass sie Menschen mit Behinderungen sind, habe ich nach einer Woche vergessen. Sie sind keine Menschen mit Behinderung, sondern Menschen, die behindert werden. Für sie ist es ja normal, nur für uns ist es irgendwie nicht normal, dass an ihren Körpern etwas nicht so ist, wie bei einem ‹klassischen› Körper. Aber für sie ist es wie die Augenfarbe, jeder hat eine andere. Und diese Haltung habe ich übernommen. Ich glaube, jede:r Regisseur:in strebt es an, mit seinen Protagonist:innen auf Augenhöhe zu sein. Ich habe mit jedem von ihnen circa zwei Monate verbracht. Wenn ich etwa mit Roman aus Donetsk im Flüchtlingsheim gedreht habe, war es mir wichtig, dass ich dann auch dort übernachte und nicht in einem Hotel. Ich wollte ein stückweit ihren Alltag leben und mich darin auflösen. Daraus entsteht wahrscheinlich auch das Gefühl, dass die Behinderung der Protagonist:innen nicht im Vordergrund steht. (Kurze Pause) Obwohl rein symbolisch spielt es eine Rolle, dass die Geschichte durch das paralympische und nicht etwa durch das olympische Team erzählt wird. Denn wenn man die Ukraine betrachtet, ist sie mit der annektierten Krim auch ein amputiertes Land. Es steht also die Frage im Raum, wie man mit diesen «Phantomschmerzen» umgeht. Was tun, wenn «Körperteile», nicht mehr da sind, so beispielsweise auch das Trainigszentrum, das den Athleth:innen nicht mehr zur Verfügung steht?
Wie geht es denn Ihren Protagonist:innen heute, sind sie in Sicherheit und haben alle den Film gesehen?
Eben nicht! Diesen Frühling sollte die ukrainische Premiere sein, wir waren auf zwei ukrainischen Festivals eingeladen. Aber keine der Veranstaltungen fand aus bekannten Gründen statt. Das ist sehr traurig, wir haben uns so darauf gefreut, wieder zusammenzukommen und mit dem Publikum den Film auf der grossen Leinwand zu geniessen. Aber jetzt weiss ich nicht einmal, wann und ob ich meine Protagonist:innen alle zusammenbekomme. Einer der Personen ist es gelungen, trotz anhaltender Kämpfe in Süden auf die Halbinsel zu ihrer Familie zu gelangen. Der ehemalige Flüchtling aus Donetsk wohnt in Odessa, eine Stadt, die ja auch nicht zu 100 % sicher ist. Über Anton, den Mann aus Mariupol weiss man leider nichts. Fünf Wochen nach Kriegsbeginn war er kurz mit seinem Trainer im Kontakt. Da waren schon alle erleichtert, dass er noch am Leben ist. Aber jetzt ist wieder Funkstille.
Das sind sicher Dimensionen, die Sie sich vor Drehbeginn noch nicht vorstellen konnten. In welchem Verhältnis stehen Sport und Politik für Sie?
Ich glaube, es existiert nichts ausserhalb von Politik, besonders grosse Sportereignisse nicht! Aber Freiheit ist keine Politik, sondern ein Grundrecht. Auch Krieg ist keine Politik, es ist ein Verbrechen.
Wie gehen Sie persönlich damit um, dass der Krieg immer weiter zu eskalieren scheint und kein Ende in Sicht ist?
Am Anfang bin ich morgens immer mit Tränen in den Augen aufgewacht. Ich hatte einfach Angst, die Nachrichten zu lesen und zu erfahren, dass Kyiv eingenommen wurde oder dass das Land so nicht mehr existiert. Für die Ukrainer:innen im Ausland ist es ein schizophrener Zustand. Einerseits siehst du überall Menschen, die nicht vom Krieg betroffen sind, die ihr Leben leben – und du selbst lebst im Grunde auch so. Aber gleichzeitig hört man von den schlimmen Dingen in der Heimat. Aber es wäre auch falsch zu sagen: Hey Leute, ihr dürft euch jetzt nicht freuen! Denn es ist wichtig, ein Stück Normalität beizubehalten. Das versuchen auch die Menschen in der Ukraine. Sie sagen: «Wir lassen uns von diesem Krieg unseren Alltag nicht rauben.» Das ist eine Art und Weise, wie man funktionsfähig bleibt, auch für den Widerstand. Aber hier im Westen ist es wichtig, dass die Alltags-Routinen nicht zum Mittel der Verdrängung wird. Ich befürchte, dass sich da eine gewisse Müdigkeit abzeichnet. Beispielsweise im Vergleich zu den ersten Wochen, in denen noch grosse Demonstrationen überall stattfanden. Mittlerweile ist der Krieg für viele ein Hintergrundrauschen aus den Medien geworden. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass dieses Verbrechen keine Sekunde in diesen fünf Monaten gestoppt hat. Dass die jetzige Weltordnung eben nicht in Ordnung ist, solange der Angriffskrieg gegen die Ukraine andauert.
Ihr Film leistet einen wichtigen Beitrag, denn er zeigt ja, dass die Welt nicht erst seit diesem Februar aus den Fugen geraten ist. «Pushing Boundaries» war bereits auf diversen Festivals zu sehen. Ist Ihnen eine Reaktion aus dem Publikum in Erinnerung geblieben?
Ja! Auf dem Festival in München war eine bekannte russische Journalistin von der Novaja Gazeta im Kinosaal. Sie meinte, es sei ihr durch den Film klar geworden, warum – ihrer Meinung nach – Russland den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen wird. Sie sagte auch, sie möchte den Film unbedingt in Russland zeigen. Und dann erinnere ich mich noch an ein Paar, das vor dem Krieg zufällig in meinem Film gelandet ist. Sie haben die Vorführung verwechselt und wollten einen ganz anderen Dokumentarfilm sehen. Nach den ersten fünf Minuten haben sie es realisiert und dachten: Oh nein, Krieg. Oh nein, Menschen mit Behinderung. Das wollen wir nicht sehen! (Lacht) Irgendwie haben sie sich dann doch dazu entschieden zu bleiben. Nach dem Screening haben sie mir gesagt, dass «Pushing Boundaries» der erste Festivalfilm sei, der sie zum Weinen gebracht habe. Am 28. Juli kommt er nun endlich in die Schweizer Kinos. Und ich hoffe, dass er die Herzen des Kinopublikums gleichermassen erobert! Dass die Zuschauenden dadurch, dass sie das ukrainische Team ein Stück auf ihrem Weg begleiten, etwas mitnehmen können. Der Film ist sehr lebensbejahend. Man hat die Chance, Menschen kennenzulernen, die man sonst nie erleben würde, wenn man sie nicht im Kino trifft. Für diese Bereicherung mag ich Dokumentarfilme.
Lesia Kordonets ist in der Ukraine geboren. Sie studierte zunächst Germanistik und war Stipendiatin des Theodor-Heuss-Kollegs. Danach studierte sie Film sowohl im Bachelor- als auch im Masterstudiengang an der ZHdK, Zürich. Heute lebt und arbeitet sie in der Schweiz und in der Ukraine.