Der Titel von Albert Serras neuem Film legt sein Wesen bereitwillig offen: «Pacifiction» ist eine pazifische Fiktion, die in ihrer Extreme schon wieder satirisch die Realität berührt. Der katalanische Regisseur bricht bereits während des Drehs mit allen Konventionen des Filmemachens und bringt Hauptdarsteller Benoît Magimel in der Rolle des französischen Politikers zu ungeahnter Höchstform. Magimel wird zum pazifischen Bill Murray mit einem Hauch Gérard Depardieu.
Pacifiction
Pacifiction | Synopsis
De Roller (Benoît Magimel), Hochkommissar der französischen Republik auf der Insel Tahiti in Französisch-Polynesien, ist ein berechnender Mann mit perfekten Manieren. Zwischen offiziellen Empfängen und zwielichtigen Lokalen fühlt er ständig den Puls der einheimischen Bevölkerung, aus der jederzeit Wut aufsteigen kann. Dies gilt umso mehr, als sich ein Gerücht hartnäckig hält: Angeblich wurde ein U-Boot gesichtet, dessen geisterhafte Präsenz eine Wiederaufnahme der französischen Atomtests ankündigt.
Pacifiction | Stimmen
«Apokalyptischer tahitischer Krimi. […] Benoît Magimel scheint sich vor unseren Augen in Gérard Depardieu zu verwandeln.» – The Guardian | «Pacifiction ist bei weitem Serras bisher ernsthaftester
und düstersterster Film, ein Epos über kastrierte Macht und menschliche Entbehrlichkeit – eine Totenglocke für die Menschheit, die wie ein tropischer Tagtraum dargestellt wird.» – Little White Lies | «Ein Märchen, eine koloniale Phantasie zwischen Coppola, Fassbinder, Chantal Akerman und Lucrecia Martel – ein wunderbarer Film.» – artechock | «Ein Wunder. Ein blendendes Bild. Ein monumentales Fresko.» – Les Inrocks
Albert Serra (*1975, Banyoles) ist ein katalanischer Künstler und Filmemacher. Er studierte spanische Philologie und Literaturtheorie, schreibt Theaterstücke und ist Regisseur verschiedener künstlerischer Videoarbeiten. Internationale Anerkennung erlangte er mit seinem ersten Spielfilm, «Honor de cavalleria», einer freien Adaption von Don Quijote mit Laiendarstellern aus seinem Dorf, der 2006 für die «Quinzaine des Réalisateurs» ausgewählt wurde. Für seinen zweiten Film 2008, «Le Chant des oiseaux», liess sich Serra von dem traditionellen katalanischen Weihnachtslied «El cant dels ocells» inspirieren und arbeitete wieder mit derselben Besetzung zusammen. Serra inszeniert darin die Suche der Heiligen Drei Könige nach dem Jesuskind. 2013 wurde ihm vom Centre Pompidou in Paris eine Carte blanche im Rahmen einer Kooperation mit dem argentinischen Filmemacher Lisandro Alonso angeboten. Im selben Jahr gewann «Histoire de ma mort», inspiriert von Casanovas Memoiren, den Goldenen Leoparden beim Filmfestival von Locarno. Der Tod von Ludwig XIV. mit Jean-Pierre Léaud in der Rolle des Sonnenkönigs lief in der offiziellen Auswahl bei den Filmfestspielen von Cannes 2016. «Liberté» erhält 2019 den Spezialpreis der Jury bei Un Certain Regard. Im Jahr 2022 lief sein neuer Film “Pacifiction” im Offiziellen Wettbewerb der
Filmfestspiele von Cannes.
Rezension
Von Geri Krebs
Wenn ich den Namen Albert Serra höre, bekomme ich Kopfweh. Dachte ich zumindest bis anhin. Bis ich – eher zufällig – auf sein neuestes Epos stiess. Denn ich gestehe, von «Pacifiction» hatte ich nur Synopsis und den Zusatz gelesen, Cahiers du cinéma hätten den Film bereits zum Besten des Jahres erkoren. Den Filmautor hatte ich glatt übersehen und mehr noch als die Krönung durch die französische Cinéphilenbibel erregte der Umstand, dass es hier um einen Kolonialbeamten mit delikatem Auftrag auf einer Südseeinsel gehen sollte, mein Interesse als politisch interessiertem Kinofan.
Ein Kolonialbeamter und seine Mission
Und tatsächlich beginnt «Pacifiction» so, als werde hier eine Anklage gegen Kolonialismus und
globalisierten Kapitalismus formuliert: Man sieht eine riesige Ansammlung von Metallcontainern in einem Hafen, der sich vor der Kulisse einer Landschaft ausbreitet, die sich bald einmal anhand von Dialogfetzen als Insel weit draussen im Pazifik identifizieren lässt. Hierher kommt ein Monsieur de Moller, Hochkommissar der Französischen Republik auf Tahiti, – wo der Film spielt – ein distinguierter Herr, der im weissen Leinenanzug und mit seiner Sonnenbrille wie die Karikatur eines Kolonialbeamten wirkt. Verkörpert wird dieser Mann mit seiner kultivierten Herrenmenschenattitüde von einem hervorragend agierenden Benoît Magimel. Im Verlauf der folgenden zwei Stunden hat er nichts anderes zu tun als von einem Bankett zum nächsten Empfang, von dort ins Casino und wieder ins Hotel und dazwischen auch mal in die Arme eines flüchtigen einheimischen Liebhabers zu stolpern – «Pacifiction» wird deshalb auch als «queerer Film» beworben. Die eigentliche Mission des Mannes mit seinen blond gefärbten Haaren aber ist: Bei den aufgebrachten Inselbewohner:innen dem seit längerem herumschwirrenden Gerücht entgegenwirken, das französische «Mutterland» wolle demnächst im Pazifik die vor über zwanzig Jahren eingestellten Atombombentests wieder aufnehmen.
Kurzweiliger Fiebertraum
Doch was sich da von der Ausgangslage her wie ein spannender Politthriller anhört, wird unter den Händen des katalanischen Regisseurs und Drehbuchautors Alber Serra und seines langjährigen Kameramanns Artur Tort zu einem fiebrigen Trip durch eine traumhafte Insellandschaft, der sich irgendwann im Nichts endloser Strände und einer wild wuchernden Vegetation auflöst. Und natürlich ist da auch etwas von diesem Albert Serra, der mir in seinen früheren Filmen Kopfweh bereitete, am meisten in seinem – 2013 völlig unverständlicherweise in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichneten «Historia de la meva mort», einer endlosen Geduldsübung über die letzten Tage Giacomo Casanovas, die sich rigoros allem verweigerte, was Kino für den Normalkonsum ausmacht. Oder dann Serras vorhergehenden Film, «Liberté» von 2018, wie der Locarno-Gewinner ein Kostümfilm, in dem – ohne erkennbare Handlung – ein paar französische Adlige, kurz vor der Französischen Revolution, sich in einem Wald an bizarren Spielarten sexueller Lust ergötzen. Derartige Anflüge von Nonsense oder reiner Langeweile gibt es zwar auch in «Pacifiction», doch vom Sog einer latenten Atmosphäre der Bedrohung vor traumhafter Kulisse werden sie stets aufgefangen, sodass man dabei als Zuschauer glatt die Zeit vergisst.
Fazit: «Pacifiction» soll nach dem Willen seines Autors ein Film sein, der aussieht wie kein anderer. Und das ist er: Denn wer eine linear auserzählte Geschichte oder auch nur einen stimmigen Plot erwartet, wird von diesem fiebrigen Südseetraum enttäuscht. Aber wer sich einlässt auf diese von Beginn weg seltsam aufgeladene Atmosphäre, die vor überwältigender Landschaft ein Unheil beschwört, das ewig auf sich warten lässt, wird mit einem der rätselhaftesten Kinoerlebnisse seit langem belohnt.