Ursula Meier, die namhafte Westschweizer Autorenfilmerin, zeichnet in ihrem neusten Werk einen bizarren Frauenkosmos: eine Mutter, ihre drei Töchter, ihr Verhältnis untereinander. Physische Gewalt spielt eine wichtige Rolle. Aber auch die Bewunderung für die Mutter und die ungestillte Sehnsucht ihrer Töchter nach Liebe und Anerkennung.
La ligne
Ursula Meier lotet erneut eine ungewöhnliche Familienkonstellation aus und gibt dem Wort «Familienkreis» auch eine topografische Dimension
La ligne | Synopsis
Ihre Gewaltausbrüche haben Margaret, 35 Jahre alt, ihre Beziehung gekostet. Sie zieht wieder zu ihrer Mutter Christina. Doch die labile, unreife 55-Jährige macht sie als älteste Tochter für das Scheitern ihrer Karriere als Konzertpianistin verantwortlich. Ein Streit der beiden eskaliert, und die wütende Margaret schlägt auf ihre Mutter ein. Die Justiz wird aktiv und die Dynamik in der Familie noch komplizierter: Aufgrund eines Kontaktverbots darf Margaret sich dem Haus ihrer Mutter nun nur noch auf 100 Meter nähern, was ihre Sehnsucht nach familiärer Nähe verstärkt. Täglich erscheint Margaret an der Bannkreisgrenze und gibt ihrer 12-jährigen Schwester Marion Musikstunden. Wie die beeindruckende Hauptdarstellerin aus diesem Kreis verbannt und der Mutter «entrissen» wird, erinnert an das Trauma der Geburt. Kennzeichnend für den Film sind die Stimmungswechsel, mit denen er die Gefühlswelten der Protagonist:innen nachempfindet und dabei immer wieder ohne Vorwarnung zwischen Komödie und Tragödie hin- und herschaltet. Tonalität und Regiearbeit sind treffsicher und heftig wie ein Schlag ins Gesicht. Text: Berlinale
Die französisch-schweizerische Filmemacherin studierte Film in Belgien. Ursula Meier begann ihre Karriere als Regisseurin mit erfolgreichen kurzen Spielfilmen und Dokumentarfilmen. Ihr Spielfilmdebüt «Home» hatte seine Premiere 2008 bei der Semaine de la Critique in Cannes, war 2009 für drei Césars nominiert und erhielt unter anderem den Schweizer Filmpreis für den besten Spielfilm. «L’enfant d’en haut» wurde auf der Berlinale 2012 mit dem Sonderpreis Silberner Bär ausgezeichnet. 2018 zeigte das Panorama den Film «Journal de ma tête», Bestandteil der von Schweizer Nachrichtenberichten inspirierten Reihe «Ondes de choc».
Rezension | La Ligne
Von Doris Senn
Zweigeteilte Welt
Wie Meiers frühere Werke spielt auch «La ligne» in einem abgezirkelten Raum. In «Home» war es die Autobahn, die den Lebensraum der Familie beschnitt – in «L’enfant d’en haut» der Gegensatz zwischen Unten, dem tristen Zuhause von Simon und Louise, und Oben, der glitzernden Welt der Schneeberge. In «La ligne» versinnbildlicht eine Linie die Trennung der Welt in ein Innen (Familie) und ein Aussen (Margaret, die älteste Tochter, die daraus verbannt wird). Die Linie – als blauer Strich auf den Boden rund ums Haus gemalt – macht das Rayonverbot augenscheinlich, dem Margaret nach dem Angriff auf ihre Mutter unterliegt.
Prägende Kontraste
Eben diese gewaltvolle Szene eröffnet den Film wie ein Urknall. In Rage wendet sich Margaret (eine sehr physisch spielende Stéphanie Blanchoud) gegen ihre Mutter. Schwere Gegenstände fliegen durch die Luft, beide werden verletzt. Die Kamera (Agnès Godard) zeigt dies in Slowmotion, dazu ein entrückter Vivaldi-Psalm. Ein Kontrast, der sich – ebenso betörend wie krass – wie ein roter Faden durch den Film zieht: Immer wieder begleitet unirdisch schöne Kirchenmusik die aggressionsreiche Beziehung zwischen Tochter und Mutter. Dabei agiert Erstere heftig und physisch, ohne Worte für ihre Empfindungen zu haben, wofür Letztere eine nicht minder heftige emotionale Ebene nutzt. Wenn die Mutter Gefühle zeigt, nutzt sie sie manipulativ. Für ihre Tochter Margaret ist Gewalt wie ein Hilfeschrei.
Bruni Tedeschi als exaltierte Musikerin und Mutter
Die Musik ist dabei nicht nur ein Kontrast, sondern auch ein Band, das alle verbindet – oder besser: verbinden könnte. Doch die Mutter (Valeria Bruni Tedeschi), einst eine berühmte Konzertpianistin, macht ihre Töchter für ihr Scheitern als Musikerin verantwortlich. Sie zeigt sich ein übers andere Mal in ihrer ganzen Überspanntheit – und damit in einer Rolle, die Bruni Tedeschi schon wie eine zweite Haut anhaftet. Ihre Töchter beschuldigt oder ignoriert sie, um dann in Selbstmitleid zu versinken. Immerhin bleibt den Töchtern die Solidarität untereinander.
Fazit: «La ligne» erzählt ein krasses Familiendrama um Gewalt und Gefühle mit bildstarker Intensität. Ursula Meier zeigt einmal mehr ihre Handschrift als eigenwillige Autorin. Doch erschwert die spröde Erzählführung die Empathie sowohl für die Figuren als auch ihr Handeln.