Kino | Das weisse Band
Mit «Das weisse Band» hat Michael Haneke einen anspruchsvollen, vielschichtigen und faszinierenden Film gedreht, der den Zuschauer voll in seinen Bann zieht …
Synopsis: 1913: Ein Dorf im protestantischen Norden Deutschlands. Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die Geschichte des vom Dorflehrer geleiteten Schul- und Kirchenchors. Seine kindlichen und jugendlichen Sänger und deren Familien: Gutsherr, Pfarrer, Gutsverwalter, Hebamme, Arzt, Bauern – ein Querschnitt der Landbevölkerung zu dieser Zeit. Seltsame Unfälle passieren und nehmen nach und nach den Charakter ritueller Bestrafungen an. Wer steckt dahinter? Regie & Crew: Für «Das weisse Band» wurde der österreichische Drehbuchautor und Regisseur Michael Haneke in Cannes zu Recht mit der goldenen Palme geehrt. Mit Filmen wie «Benny’s Video» (1992), «Funny Games» (1997), «Die Klavierspielerin» (2001) und «Caché» (2004), erkundete er auch zuvor schon die menschlichen Abgründe in bürgerlichen Kleinfamilien. Stars: Die ganze Schar hervorragender Jungschauspieler.
art-tv-Wertung: Michael Haneke hat mit «Das weisse Band» über eindrückliche Schwarz-Weiss-Bilder eine Reise in die Vergangenheit gewagt, die sich, auch wenn sie teilweise beklemmend ist, für wohl jeden Zuschauer lohnt. Dies vor allem deshalb, weil man aus vergangenen Gesellschaftsordnungen, wie sie hier genauestens seziert werden, immer auch die weitere Entwicklung von Geschichte und Gegenwart im Allgemeinen besser nachvollziehen kann. So ist dieser Kosmos einer ländlichen Dorfgemeinschaft, die abwechselnd von dem inzwischen alt gewordenen Lehrer (Christian Friedel) kommentiert wird, vor allem für die darin heranwachsenden Kinder ein Leben in einem furchtbaren Korsett. Im Mittelpunkt steht die Familie eines konservativ-protestantischen Pfarrers (Burghart Klaussner), der mit seinen Erziehungsmethoden auf zuweilen tragisch-komische Weise deutlich macht, dass die elterliche Erziehungspflicht mit gesunder Disziplin hier nichts mehr zu tun hat. Vielmehr lebt dieser gewalttätige Vater seinen Kontrollzwang und seine Macht auf unbarmherzige Weise über die wiederholte Bestrafung an seinen Kindern aus. Das weisse Band, dass er dem Sohnemann zum Zwecke eines permanenten Schuldgefühles aufgrund seiner jungendlichen Triebe um den Arm bindet, wird für den Zuschauer zum Symbol von Zwang, Züchtigung, Demütigung und der Legitimation von Gewalt. Das «Funktionssystem Familie» ist hier so krank, dass die Spirale der physischen und psychischen Gewalt, die zunächst noch für die Ordnung in der Anti-Idylle sorgt, unausweichlich in eine gewaltige Katastrophe münden muss. Die intime Zurschaustellung der vermeintlichen Ordnung einer deutschen Vorkriegsgesellschaft ist somit auch mit einer historischen Dimension verknüpft – der erste Weltkrieg stand unmittelbar bevor. Fazit: «Das weisse Band» ist eine zugleich erschütternde und faszinierende Gesellschaftsstudie, die von der Vergangenheit lebt und zum Denken über die Gegenwart anregt.
Isabel Bures