Der Dokfilm schöpft aus einem riesigen Fundus teils erstmals veröffentlichter Bilder, Erinnerungen und Audios. Gleich drei renommierte US-Filmemacherinnen – Karen O’Connor, Miri Navasky, Maeve O’Boyle – führten Regie bei JOAN BAEZ – I AM A NOISE und lassen die sensible Sängerin aus intimer Nähe ihr Leben nachzeichnen.
JOAN BAEZ – I AM A NOISE
Joan Baez ist die wichtigste Künstlerin, die aus der amerikanischen Folkmusik-Bewegung der späten Fünfziger-, frühen Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts hervorgegangen ist. Mit ihrem unverkennbaren glockenklaren Sopran gehört Baez auch zu den besten und einflussreichsten Sängerinnen der frühen Popkultur. Und natürlich ist sie eine der wichtigsten Figuren des politischen Aktivismus in den USA: Sie marschierte an der Seite von Martin Luther King, protestierte als eine der ersten gegen den Vietnamkrieg, heiratete einen bekannten Fahnenflüchtigen und nutzte ihren klingenden Namen, um im Verlauf der Jahrzehnte immer wieder auf die Anliegen unterdrückter Minderheiten aufmerksam zu machen. Zwischenzeitlich gab sie die Musik fast komplett auf, um sich auf ihr progressives Engagement konzentrieren zu können. Obwohl man Baez als Sängerin vor allem für ihre Musik kennt, die sie in den Sechzigerjahren aufgenommen hat (und für ihr bahnbrechendes Album «Diamond and Rust» aus dem Jahr 1975, in dem sie in autobiografischen, «nackten» Songs ihre schwierige Beziehung zu Bob Dylan verarbeitet), veröffentlichte sie bis zu ihrer letzten Tour im Jahr 2019 immer wieder engagierte, leidenschaftliche Alben.
JOAN BAEZ – I AM A NOISE | Synopsis
Seit mehr als 60 Jahren ist Joan Baez eine der bekanntesten Stimmen der populären Kultur, hat mit ihren Liedern, aber auch ihrer aufrechten,
kämpferischen Haltung Generationen von massgeblichen Künstlern sowie Menschen auf der ganzen Welt beeinflusst. Nun blickt die wichtigste amerikanische Folksängerin zurück auf ihre Karriere und ihr Leben: von ihren lebenslangen emotionalen Problemen, über ihr Engagement in der Bürgerrechtsbewegung mit Martin Luther King, bis hin zu der schmerzlichen Beziehung mit dem jungen Bob Dylan. In offenen, ungeschminkt ehrlichen Gesprächen, die ungeahnte persönliche Kämpfe und innere Dämonen zu Tage fördern, gewährt sie einen tiefen Blick in ihre Seele. Das Ergebnis ist ein filmisches Dokument von mitreissender Power, das einer aussergewöhnlichen Frau ein würdiges Denkmal setzt.
Rezension
Von Doris Senn
Erst 18 Jahre alt wurde Joan Baez mit einem Auftritt am Newport-Festival über Nacht zum Star – mit 21 war sie als «Queen of Folk» auf dem Cover des «Time Magazine». Baez kommentiert dies bescheiden mit: «Ich war die richtige Stimme zur richtigen Zeit.» Mit ihrem Vibrato-Sopran, ihrem dezidierten politischen Engagement (gegen die Rassentrennung, den Vietnamkrieg, für Bürgerrechte) wurde sie zu einer Ikone der Protestbewegung jener Jahre. Aufgrund ihrer engelhaften Erscheinung verglich man sie gar mit der «Jungfrau Maria», was sie mit leiser Ironie von sich wies: «I am not a saint. I am a noise …»
Baez und Dylan
Selbstbewusst ging Baez ihren Weg und verhalf dem damals ebenfalls blutjungen Bob Dylan, den sie bei ihren Konzerten auf die Bühne holte, zum
Karrieresprung, um schliesslich nebst der künstlerischen auch eine Liebesbeziehung mit ihm einzugehen. Ein Dream Couple – mit abruptem Ende: Nur zwei Jahre später, auf seiner England-Tour, beendete Dylan die Beziehung einseitig und öffentlich. Er ignorierte Baez während seiner Tournee musikalisch komplett, was für sie zu einem Trauma wurde.
Schatten einer glücklichen Kindheit
JOAN BAEZ – I AM A NOISE begleitet die fast 80-jährige Sängerin 2019 auf ihrer Abschiedstournee und streift parallel dazu die biografischen Stationen, die sie zur Legende machten. Im Vordergrund aber steht Baez’ ganz persönliches Leben: Homemovies zelebrieren ihr Aufwachsen in einer Quäkerfamilie. Es ging scheinbar lustig zu und her, schon früh prägten sich ihre musikalischen Fähigkeiten sowie ihr Bewusstsein für Pazifismus und soziale Unterschiede aus. Ein vordergründig beneidenswertes Setting – jedoch mit dunklen Schattenseiten, die Joans Leben und dasjenige ihrer Schwester Mimi bereits in der Jugendzeit trüben sollten. Noch minderjährig wurde Joan psychiatrisiert, sie kämpfte mit Depressionen und Panikattacken – was erst Mimi und aufgrund einer Hypnosetherapie in fortgeschrittenem Alter, auch Joan auf in den Erinnerungen tief vergrabene sexuelle Übergriffe durch den Vater und andere mehr, zurückführt.
Radikale Verletzlichkeit
Regisseurin Karen O’Connor ist seit 37 Jahren mit Baez befreundet – was ihr und ihren Co-Regisseurinnen privilegierten Zugang zu Baez’ Leben, Gefühlen und Gedanken gibt. So kommen sie an ungesehene und ungehörte Archivmaterialien, die der Film meisterhaft mit Baez’ Lebensgeschichte verwebt, inklusive der grandiosen Animationen des Studios Eat the Danger, die auf Originalzeichnungen der Musikerin basieren. Baez spricht freimütig über ihre Erfolge, aber auch über Fehlschläge: Sie erzählt von ihren Beziehungen und den Problemen, die sie mit Nähe hat. Sie thematisiert ihren Drogenkonsum und ihre Abwesenheit als Mutter ihrem einzigen Sohn gegenüber – Joan Baez legt selbst den Finger auf einige wunde Punkte in ihrer schillernden Star-Biografie.
Fazit: Der fast zweistündige JOAN BAEZ – I AM A NOISE ist kein klassisches Biopic über die grosse Sängerin und engagierte Zeitgenossin, sondern vielmehr ein intimes Porträt, das tief in die Psyche der Aktivistin eintaucht, die als «Stimme und Gewissen» ihrer Generation Geschichte schrieb. Mit fast 83 Jahren scheint sie endlich zu einer Art Versöhnung mit ihren «inneren Dämonen» – ja zu einer Art seelischem Frieden und «wholeness» gefunden zu haben. Man mag es der «Queen of Folk» gönnen.