UND DASS MAN OHNE TÄUSCHUNG ZU LEBEN VERMAG ist einer der Filme, die wohl nur an Festivals zu sehen sind und den Weg ins Kino nur schwer finden dürfte. Dafür ist die Arbeit von Katharina Lüdin zu wenig auf den Mainstream ausgerichtet, zu tiefgründig, zu differenziert. Und das ist ein Glück!
Interview Katharina Lüdin | UND DASS MAN OHNE TÄUSCHUNG ZU LEBEN VERMAG
- Publiziert am 2. Oktober 2023
UND DASS MAN OHNE TÄUSCHUNG ZU LEBEN VERMAG | Zum Film
Im Herzen eines alten Anwesens, eingebettet in einer unbestimmten Stadt, in der die Zeit ihre Spuren zu hinterlassen scheint, und in einem einst gepflegten Garten, der nun von ungezähmter Vegetation überwuchert ist, kreuzen sich eine Vielzahl von Charakteren, prallen aufeinander und setzen ihre Beziehungen fort, in einer Atmosphäre, in der das Gleichgewicht in der Schwebe bleibt. Im Hintergrund ein Viertel, das von einem stürmischen Klima heimgesucht wird, dominiert von der Allgegenwart von Baugerüsten, die einen bevorstehenden Wandel prophezeien. Wie das Theaterstück, das zwei der Hauptfiguren, Merit und David, parallel zur Geschichte vorbereiten, scheinen sich diese Seelen in einem aufregenden Ort zu vermischen, einem Raum, der Raum für Fragen bietet.
Merit, eine Schauspielerin von grosser darstellerischer Kraft, in ihren Fünfzigern, wiederbelebt tatsächlich gerade ein Stück mit ihrem Ex-Mann David. Sie sucht verzweifelt nach einer Wiedergeburt, nach neuen Erfahrungen, die sie wiederbeleben, bleibt jedoch teilweise gefangen in der Vergangenheit, in ihren Entscheidungen und früheren Handlungen. Diese Dualität zieht sie unaufhaltsam in das Zentrum dieses komplexen Gewebes, das mit einer lyrischen Feder erzählt wird. Ihre Beziehung zu ihrer aktuellen Partnerin Eva schwankt am Rande einer latenten Krise, während die Angst vor der Zukunft sie allmählich voneinander entfernt. Merit versucht, ihren Raum zu erweitern, bis zu einem Punkt ohne
Rückkehr, und setzt physische Gewalt ein, um dies zu erreichen. Ist es jedoch das erste Mal? Eva, die in immer tieferes Schweigen versinkt, spielt die allmähliche Auflösung ihrer Verbindung.
Auf der anderen Seite muss Lion, der Sohn von Merit und David, die schwierige Entscheidung treffen, Rose, seine erste Liebe, aufzugeben, die nun von neuen Horizonten angezogen wird und in die Vereinigten Staaten abhebt. Merit hingegen beginnt eine neue kurze Affäre mit ihrem Ex-Mann, und in der emotionalen Turbulenz dieser Verbindung findet sie nur wenig Raum, um Zärtlichkeit für ihre fünfjährige Tochter aus einer anderen Ehe zu zeigen. Dieses junge Kind, oft sich selbst überlassen, begibt sich auf die Reise, ihre einsame Welt zu erkunden und versucht, ihren Alltag zu verzaubern.
Zu Beginn meiner Wertschätzung Ihrer Arbeit möchte ich gerne auf den Titel Ihres Films UND DASS MAN OHNE TÄUSCHUNG ZU LEBEN VERMAG eingehen. Könnten Sie uns Ihre Gedanken dazu mitteilen?
Der Titel, den ich für meinen Film gewählt habe, stammt aus einer Dankesrede von Ingeborg Bachmann zum Hörspielpreis der Kriegsblinden 1959. Dieses Zitat hat mich besonders berührt. Die «Täuschung» ist zu einem zentralen Bestandteil meiner Überlegungen geworden. Die Idee der «Täuschung» bzw. die Frage nach Wahrhaftigkeit stellt sich immer dann, wenn ich meine Beziehungen zu anderen Menschen betrachte, aber auch, wenn ich die Gesellschaft als Ganzes betrachte, die sowohl eine Ansammlung von Menschen ist, aber eben auch eine strukturelle Ebene hat. Darüber hinaus sind Fragen nach Ungerechtigkeiten, dem Klimawandel, der Verharmlosung von Problemen, die lieber ignoriert werden, anstatt sich ihnen zu stellen und Diskriminierung, Antifeminismus und Klassismus allesamt zentrale Themen in meinem Nachdenken über dieses Konzept der Täuschung (und eben der Enttäuschung als Gegenstück dazu). Das Erforschen dieser Dynamik ist für mich einer der zentralen Ausgangspunkte gewesen. Die Figuren in diesem Film sehen sich mit Entscheidungen konfrontiert, die ihr Leben vollständig verändern könnten, manchmal auch auf schmerzhafte Weise.
*Ihr Film erforscht die verschiedenen Interaktionen zwischen einer Vielzahl von Charakteren, darunter Beziehungen wie die zwischen einem
Frauenpaar, Mutter-Sohn-, Tochter-Vater-, geschiedenen Eltern-Stiefeltern, Kollegen im Theater, Fernbeziehungspartnern und vielen anderen. Ist es so, dass die von der kleinen Lovis, die fünf Jahre alt ist, im Garten geknüpften Fäden diese verschiedenen Beziehungen symbolisieren sollen?*
Ihre Sichtweise ist interessant. Ich bin fasziniert davon, wie bei den Zuschauer:innen nach einer individuellen Begegnung mit dem Film neue, einzigartige Interpretationen auftauchen. Der Film, der auch von der Einzigartigkeit von Beziehungen handelt, scheint in der persönlichen Beziehung zu jeder zuschauenden Person anders lebendig zu werden. Und was mich besonders freut, ist, dass jede Person eine unterschiedliche Lesart des Films findet. Es gibt kein Richtig oder Falsch.
Wie zeigt sich das an Lovis?
Das Kind, Lovis, verkörpert sicherlich einige dieser Themen, sei es bewusst oder unbewusst. Ihr Spiel im Garten bietet eine Möglichkeit, Parallelen zwischen den verschiedenen Charakteren zu ziehen, während es allen Zuschauenden ermöglicht, ihr eigenes Licht auf dieselbe Szene zu werfen und so völlig unterschiedliche Erfahrungswelten miteinzubeziehen. Lovis steht für mich auch für Unabhängigkeit und stellt oft Fragen, die von anderen Charakteren vernachlässigt werden. Sie existiert irgendwie im Dazwischen und inmitten aller anderen, und gerät doch oft in den Hintergrund, vielleicht ist sie aber dadurch von allen Figuren auch am meisten «frei». Sie kann eine Perspektive der Hoffnung eröffnen. Ihre Figur erinnert daran, dass unsere ursprüngliche Umgebung, in der wir aufwachsen, einen tiefen Einfluss auf uns ausübt, während gleichzeitig bei ihr noch die Möglichkeit besteht (bzw. eine vermeintliche Hoffnung darauf), dass sie einen anderen Weg wählen kann, dass sie auf gewisse Weise frei bleibt – dass sie es schafft, diesen Prägungen zu entgehen. Ich möchte jedoch immer Raum lassen dafür, dass Menschen darin etwas sehen, was ihnen entspricht und habe deshalb nicht die Absicht, zu definieren, wie die Zuschauenden den Film zu lesen haben. Das würde der bewusst gewählten Form der Auslassung wieder etwas wegnehmen. Das alles sind Möglichkeiten, es gibt aber auch andere.
Und wie steht es mit den Aufnahmen weiblicher Körper, die wie bewegte Gemälde wirken? Während der Projektion kam mir immer wieder Manets Gemälde Olympia in den Sinn.
Meine Absicht war es nicht, bestimmte Gemälde explizit zu zitieren, aber im Nachhinein sehe ich dennoch diese Parallelen. Der Film behandelt zweifellos die Körperlichkeit, jedoch unabhängig von der Kunstgeschichte. Es ist jedoch schwer, isoliert zu denken, da wir alle von unserer Sozialisation und den Geschichten und Werken geprägt sind, auf die wir zugreifen können bzw. zu denen wir Zugang hatten. Der Film handelt von Frauen um die 50, eine Gruppe, die im Kino selten im Mittelpunkt steht. Mein Ziel war es nicht, sie zu idealisieren oder, wie es eine männliche Perspektive oft tut, sie zu objektivieren. Im Gegenteil, ich wollte, dass der Film auf gewisse Weise die Tiefe der Geheimnisse widerspiegelt, die Menschen in sich tragen, jenseits von Geschlecht, aber im Falle von Frauen werden diese Geheimnisse eben viel zu selten mit Respekt behandelt. Alle Figuren haben eine Vergangenheit gelebt und werden eine Zukunft haben, aber wir sehen dennoch nur ihre Gegenwart während einer kurzen Lebensspanne, deren zeitlicher Rahmen in diesem Film übrigens nur vage definiert ist.
Wie gingen Sie mit Körperlichkeit um?
Ich war an menschlichen Körpern mit ihrer Oberfläche interessiert, mit ihren unterschiedlichen Hautstrukturen, den Bewegungen dieser Haut, die von jedem Atemzug der Charaktere belebt wird, einen sich ständig verändernden Körper, bei dem in jeder Sekunde eine Kaskade von zellulären Ereignissen und Veränderungen ausgelöst wird. Alles ist in ständiger Bewegung, jede Millisekunde gibt es Regeneration und Transformation des Körpers, und beim Film bringt jede Sekunde 24 neue Bilder hervor, die diese Dynamik einfangen. Diese Gegenüberstellung hat mich interessiert. Das analoge Bildkorn ist porös und lebendig und auch in jeder Sekunde einzigartig, kein Korn ist wie das andere und in ständiger Veränderung begriffen. Der Film zeigt auch verschiedene Entwicklungsstadien der Haut, wie Blutergüsse, die im Laufe der Zeit ihre Farbe ändern, von einem dunklen Blau zu einem helleren Grün und schliesslich zu einem blassen Braun, das verblassend die scheinbar unveränderte Haut darunter enthüllt. Zeit verwischt oberflächlich die Narben der Vergangenheit, zumindest im Erscheinungsbild.
Und wie ist es mit der Zeit?
Das Verständnis hier liegt im Aushalten von Zeit. Die Zeit ermöglicht es den verschiedenen Geweben, sich zu verändern, sie ermöglicht es dem Film, Szenen festzuhalten, und sie ermöglicht auch die Reparatur oder das Verbergen von vergangenen Traumata.
Könnten Sie uns etwas über Ihren kreativen Prozess bei der Erstellung des Films erzählen?
Die Entscheidung, 16 mm-Zelluloidfilm und eine bestimmte Farbpalette zu verwenden, standen schon sehr früh fest. Während der Drehbuchentwicklung konzentrierte ich mich darauf, meine Aufmerksamkeit auf zwei Frauen in ihren 50ern zu richten, die die Hauptfiguren werden sollten. Mein Ziel für den Film war es nicht, Klischees von «starken 50-jährigen Frauen, die nochmal ausbrechen und endlich alleine auf Abenteuerreise gehen», zu präsentieren. Im Gegenteil, ich wollte ihre alltäglichen Interaktionen und Beziehungen authentisch erkunden. Das Drehbuch entwickelte sich aus einem Interesse an Nähe und Distanz und an Machtstrukturen innerhalb familiärer sowie institutioneller Mikroorganismen, sowie an Räumen und Bewegungen in Räumen, die je nach Setzung Enge oder Freiraum erschaffen können. Dazu gehören dann zwangsläufig auch Farben, Klang von Sprache, Dynamik von Pausen, taktile Empfindungen und Formen. Die Darstellung der Komplexität menschlicher Beziehungen und eines Vakuums und das gleichzeitige Raumgeben dafür, dass die Zuschauenden die Lücken mit eigenen Erfahrungswelten anreichern können, erforderte einer Strukturierung des Drehbuchs, die zwischen gesprochenem Wort und Stille wechselt und so die Bedeutung – auch die Gewaltsamkeit –von Wortlosigkeit betont.
Das Element Wasser spielt eine wichtige Rolle
Der Film spielt mitten im Sommer, aber ich habe es teilweise bewusst regnen lassen. Das Element Wasser wurde nach und nach wichtiger im Prozess. Eine immer wiederkehrende Waschmaschine, die ihren Geist aufgibt, Regen, das Spülen von Geschirr, Tautropfen im Gras, dann wieder Dürre in Grossformat, die gegossen werden möchte. Feuchtigkeit auf der Haut. Viele dieser Setzungen entstanden intuitiv im Prozess, Wasser im Fluss und gleichzeitig das Mechanische von Gerätschaften und das Einwirken von Mensch auf Gegenstand, auf ein Instrument, eine Schnittblume, einen Maschinenmotor, aber eben auch auf den Körper einer anderen Person, haben mich interessiert. Der Film lädt dazu ein, über Fragen von Grenzen, Bindung und Ablösung, über Transformation, Reparation und Erneuerung (die auch immer auf eine gewisse Art ein «Ende» bedeutet) nachzudenken.
Vielen Dank für das Gespräch