Die dokumentarische Tragikomödie «RIVERBOOM» zeigt die verrückte Odyssee von drei jungen Kriegsreportern durch das Chaos Afghanistans kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001: Serge, ein arbeitssüchtiger Journalist; Paolo, ein ebenso fröhlicher wie ahnungsloser Fotograf; und Claude, ein krankhaft vorsichtiger Schweizer Typograf. Ein spannendes Roadmovie voller Humor und Selbstironie. Der Regisseur des Filmes, Claude Baechtold, hat uns seine Eindrücke während dieser wilden Reise anvertraut
Interview Claude Baechtold | RIVERBOOM
«Ich sah ein lächelndes Afghanistan, obwohl es mir immer als ein Land des Leidens dargestellt worden war.»
Claude Baechtold wurde interviewt von Ondine Perier
Es ist schon erstaunlich, dass Sie Ihre Videokassetten fast 20 Jahre nach der Reise nach Afghanistan wiedergefunden haben! Dieser Fund hat es Ihnen ermöglicht, Ihre wilde Reise in filmischer Form zu erzählen, und Ihr Dokumentarfilm ist eine wahre Freude! Man spürt die wachsende Komplizenschaft mit Ihren Reisebegleitern, dem Journalisten Serge Michel und dem Fotografen Paolo Woods. Die beiden kannten sich schon vorher, ist das richtig?
Ja, aber nicht sehr gut. Paolo wollte Kriegsfotograf werden und hatte Serge kontaktiert. Sie hatten sich im Iran kurz getroffen.
Gab es während der Reise Ereignisse, die euch besonders zusammengeschweisst haben?
Ja, zuerst war da ein Gespräch über Fotografie mit Paolo. Dann haben wir den Fluss Boom gemeinsam überquert. Das war genau der Moment, in dem wir uns entschieden haben, dass wir uns als Team zusammenschliessen würden. Kriegsreporter sind grundsätzlich Einzelgänger. Manchmal wird ihnen ein Fotograf zugeteilt und sie arbeiten ein paar Tage zusammen. Aber es gibt wenige feste Teams. Zufällig dauerte die Reise länger als geplant, nämlich rund zwei Monate. Als wir damals aus dem Auto stiegen, hätten wir uns – wie dies bei fast allen Teams der Fall ist – trennen und dann jeder sein eigenes Leben führen können. Schlussendlich sind wir fast zehn Jahre lang gemeinsam gereist und wir arbeiten auch heute noch zusammen. Das ist ziemlich selten. Wir haben sogar beschlossen, einen Verlag zu gründen. Das lag an der Verrücktheit jedes einzelnen Teilnehmers. Jeder hatte diesen Traum, Teil eines Teams zu sein.
Bei der Promotion des Films in Locarno hat man Sie alle drei zusammen angetroffen.
Wir sehen uns häufig. Serge und Paolo haben die Zeitschrift «Kometa» gegründet. In Paris führen wir immer noch den Verlag RiverBoom, der 20 Jahre lang Bücher und Fotos produziert hat. Wir sind noch eng miteinander verbunden. Paolo und Serge kamen beide zur Filmpremiere nach Paris.
Zurück zur Reise: Bei den Treffen mit Kommandant Atta, dann mit General Dostum und beim Passieren des Checkpoints spürt man bei Ihnen – und das ist verständlich – Panik. In welchen Momenten waren Sie am meisten gestresst? Ich war ein richtiger Angsthase. In der Schweiz geht man nie wirklich Risiken ein. Das grösste Risiko ist, wenn man vergisst, sein Zugticket zu kaufen. Und dann stand ich plötzlich Serge und Paolo gegenüber, die das Gegenteil von ängstlich sind. Denn eigentlich hätten sie nicht in dieser Situation befunden, wären sie so wie ich gewesen. Sie sind Menschen, die abwägen – sie wissen, dass eine Reise nach Zermatt natürlich sicher ist, aber dass das Unterfangen in Afghanistan trotzdem sinnvoll ist. Diese Reise war aus Risikosicht durchaus vernünftig. Schaut man sich die Fotograf:innen an, die nach Syrien gegangen sind oder die jetzt in Gaza oder in der Ukraine sind, dann gehen sie ein viel grösseres Risiko ein. Denn dort herrscht Krieg, es fallen Bomben und sie werden ins Visier genommen. Wir wurden damals nicht als Journalisten ins Visier genommen. Die Gefahr bestand darin, dass wir Teil dieser westlichen Operation waren. Wir waren Journalisten und sollten neutral sein, aber wir waren eben auch Westler. Und der Westen war in Afghanistan einmarschiert, auch wenn das Ziel, die Befreiung und das Wohl des Landes war. Die Taliban waren natürlich nicht gerade begeistert von uns.
Wie oft wollten Sie das Team verlassen?
Der Wunsch war ständig da, aber ich konnte es nicht. Ausserdem war die Gefahr zu gehen grösser als die zu bleiben. Denn plötzlich wird alles viel komplizierter, wenn man allein ist. Schliesslich gewöhnte ich mich daran, Teil des Team zu sein. Wir sprachen viel zusammen und ich glaubte ihnen, vor allem, wenn sie mich beruhigten.
Sind Sie dank ihrer Freunde risikofreudiger geworden?
Nein, überhaupt nicht. Jedes Jahr gehen wir mit Robbenfellen Ski fahren. Paolo und Serge lieben es, steile Hänge über Steine zu nehmen. Und ich hasse das: Ich hasse es, Risiken um das Risiko willen einzugehen. Abenteuer hingegen mag ich – abseits der ausgetretenen Pfade.
Man spürt, dass der Entdeckungsdrang Sie bei Ihrer Arbeit leitet.
Ich war unvoreingenommen in meiner Meinung zu diesem Land und bin es auch grundsätzlich gegenüber der Länder, die ich besuche. Ich versuche immer, etwas zu lernen – also das Licht in meine Kamera zu lassen. Und wenn dieses Etwas dann vielleicht anders ist als das Bild, das ich von dem Land hatte, – umso besser. Und das war in Afghanistan der Fall: Plötzlich sah ich dieses Land in Farbe, obwohl ich es immer nur in Schwarz-Weiss gesehen hatte. Ich sah ein lächelndes Afghanistan, obwohl es mir immer als ein Land des Leidens dargestellt worden war. Das ist eine neue Facette Afghanistans, die ich im Film teile.
Es ist sehr bewegend, als Sie im Film sagen, dass Sie am 42. Tag Ihrer Reise, als Sie den Fluss überquerten, in die Welt der Lebenden zurückgekehrt sind. Wann hatten Sie dieses Aha-Erlebnis? Der Fluss war eine Art Splitterbombe. Das habe ich erst viel später verstanden – im Moment der Montage, also 20 Jahre später! Da wussten wir alle, dass diese Reise uns verändert hatte. Jeder hatte diese Nacht anders erlebt. Dass unser Nachbar uns umbringen wollte, haben mir meine Freunde erst 20 Jahre später erzählt.
Unter all den Abenteuern, die Sie in diesen zwei Monaten erlebt haben, war diese Überfahrt ein entscheidender Wendepunkt in Ihrem Leben. Weshalb ist das so?
Weil es der Moment war, in dem alle Ampeln auf Rot standen. Während der restlichen Reise übernachteten wir immer in Sicherheit beim Bürgermeister des Dorfes oder bei sonst jemandem. Wir waren unter einem Dach. Ist man in Afghanistan unter einem Dach, wird man vom Besitzer des Daches geschützt: Er ist dafür verantwortlich, einem am Leben zu halten und zu ernähren. In dieser Nacht schliefen wir im Auto. Niemand übernahm also die Verantwortung für uns. Stirbt man, ist niemand verantwortlich – weder der Dorfvorsteher noch der Kriegsherr. Ausserdem waren wir weit weg von allem: Wir waren drei Tagesreisen mit dem Auto von einer Apotheke entfernt. Sitzt man dann nachts im Auto, die Füsse in einem Fluss, das Gewitter tobt und man hört, dass es Wölfe gibt, dann entstehen plötzlich Fantasien im Kopf. Diese Nacht hat mich am meisten geprägt. Deshalb haben wir unser Team auch RIVERBOOM genannt. Als wir am nächsten Morgen aufwachten, wussten wir, dass wir etwas aus diesem Erlebnis machen müssten.
Die Montage ist wirklich gelungen: dieses Patchwork aus Videos, Fotos und Ihrer Stimme aus dem Off, die die Stimmung und Ihre Abenteuer sehr humorvoll wiedergibt. Haben Sie das ganze Skript geschrieben?
Der Film wurde beim Schnitt geschrieben, der fünf Monate gedauert hat. Deshalb wurde Kevin Schlosser, der Cutter, als Off-Stimme genannt. Wir haben nicht nach einem Drehbuch gearbeitet. Wir haben so lange geschnitten, bis der Film funktioniert hat. Wir hatten das Reisetagebuch, das ist das Buch, die Spur. Aber das reicht nicht für ein Drehbuch. Es war sehr kompliziert, den Film so zu gestalten, dass er funktioniert. Kevin und ich hatten ein Grundvertrauen in das Projekt. Hätten wir die Hälfte des Films streichen müssen, hätten wir es getan. Wir haben den Film wirklich auf den Kopf gestellt, wir haben tausend Dinge am Schnitt gemacht, damit er funktioniert.
Man hat den Eindruck, bei einem Making-of der Reportage dabei zu sein, die Serge und Paolo für «Le Figaro» liefern. So habe ich es empfunden: hinter die Kulissen einer Expedition zu blicken und mitzuerleben, wie eine Zusammenarbeit und – was Sie betrifft – eine Berufung entsteht.
Ich bewege mich eher im Genre Reisebericht wie Ella Maillart, deren Spuren wir gefolgt sind. Rückschläge gehören zu einer Reise dazu. Zwar lernt man von einem anderen Land, aber in Wirklichkeit ist nicht das Land das Thema, sondern die Reise. Wie verändert sie uns? In welchem Gemütszustand sind wir? Warum sehen wir die Dinge so, wie wir sie sehen? Das ist das Gegenteil von neutralem Journalismus. Ich bin subjektiv und zeige das auch. Ich gebe meine Gefühle und Seelenzustände während der Reise preis.
Ich kann mir vorstellen, dass der Film sehr gut ankommt. Es ist ein Roadmovie, in dem es trotz des Kontextes viel Humor gibt.
Ja, es ist ein Feelgood-Movie. Es war am Anfang sehr herausfordernd. Alle sagten, dass es nur eine einzige zulässige Art und Weise gibt, über Afghanistan zu sprechen, nämlich zu sagen: Es ist schrecklich. Bereits als ich dort war, wollte ich etwas anderes zeigen – denn nicht alles in Afghanistan war schrecklich. Man darf ein Land nicht bevormunden, nur weil es 40 Jahre lang einen entsetzlichen Krieg geführt hat. Nach und nach fanden wir einen Weg, diese Reise zu erzählen, sodass sie nicht nur eine Farce, nicht nur ein Buddy-Movie ist. «RIVERBOOM» wurde auf vielen Festivals gezeigt. In Argentinien, in Buenos Aires, das sehr weit von Afghanistan entfernt ist, fiel es dem Publikum leicht, sich mit dem Film zu identifizieren. Ich habe ihn auch in Istanbul gezeigt, wo viele Afghanen und Afghaninnen im Saal waren. Sie waren sehr froh darüber, ihr Land nicht nur unter den Bombardierungen zu sehen. Man muss dazu sagen, dass im Jahr 2002 alle dachten, dass es besser werden würde. Die Hoffnung war da.
Arbeiten Sie derzeit als Regisseur an anderen Projekten?
Ja, ich bin gerade dabei, den Film in Frankreich in eine Serie umzuwandeln. Wir sind bei dieser Arbeit noch ganz am Anfang des Prozesses. Zudem bereite ich einen Kinodokumentarfilm vor. Er geht in die gleiche Richtung wie «RIVERBOOM», aber spielt in der Schweiz. Der Film handelt nicht von einer bestimmten Reise, sondern von Beton im Allgemeinen. Im Moment heisst er «Meine Frau ist Architektin», weil meine Frau tatsächlich Architektin ist. Es ist sozusagen die gleiche Reise, aber ins Land des Betons.