Der Film macht bewusst, wie wertvoll das Gespräch mit Zeitzeugen für unsere Gesellschaft ist. Denn Geschichte vergeht nicht, sie lebt neben uns, in unserer Mitte. Es gilt sie nur zu erkennen und anzuhören.
Dokumentarfilm | Verdinger
Zum Film
Verdingt, vergessen, geprägt für immer – der Dokumentarfilm erzählt die Lebensgeschichte von Alfred. Die Zeit als Verdingkind im Berner Oberland hat ihn das ganze Leben lang begleitet. Er spricht über seine Wünsche, Hoffnungen und Ängste und erzählt, wie er trotz aller Benachteiligungen sein Leben bis heute meistern konnte.
Der siebeneinhalbjährige Alfred wurde Ende Vierzigerjahre verdingt – die Mutter war schwer krank, die Familie arm. Er kam zu einem «frommen» Bauernpaar, das ihn als Arbeitskraft missbrauchte, schwer drangsalierte und hungern liess. Ein Wunder, dass Alfred die Qualen nur schon physisch überlebte! Vor drei Jahrzehnten sollte den heute 82-jährigen die Vergangenheit einholen. Klinik, Therapien, Medikamente, ein fürsorgliches Umfeld können seither die Depressionen, das erlittene Trauma nur knapp in Schach halten. Die Fragen nach dem Warum und nach den Beweggründen der sadistischen Verdingeltern, dem Wegschauen so vieler treiben Alfred bis heute um.
Im 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Zehntausende Kinder in der Schweiz fremdplatziert, als Leibeigene ausgenutzt und gequält, von der Gesellschaft geächtet. Erst vor ein paar Jahren machte man sich daran, dieses dunkle Kapitel in der jüngeren Geschichte aufzuarbeiten und Wiedergutmachung zu fordern (siehe das Buch «Versorgt und vergessen»).
Der Kameramann Saschko Steven Schmid schafft mit «Verdinger» sein eindrückliches Regiedebüt. Mit den Erzählungen eines einzigen Zeitzeugen – Alfred Ryter aus dem Berner Oberland – lässt Schmid das Drama der Verdingung einfühlsam wieder aufleben. Ryters Erinnerungen, die Schmid während einer Woche in einer schlichten Bauernstube aufnahm, lässt er vor dem Hintergrund suggestiver Landschaftsbilder in zurückhaltend inszenierten Reenactment-Szenen auferstehen. «Verdinger» erzählt so nicht nur eindringlich von einer gestohlenen Kindheit, der Film zeigt auch, wie die erlebte Grausamkeit ein ganzes Leben zutiefst traumatisiert und überschattet.
Doris Senn, arttv.ch