Nur wenige Regisseure verstehen es, mit ihren Filmen am Puls der Zeit zu sein und gleichzeitig dem Publikum einen ganz anderen Blick auf die Welt zu zeigen. In seinem neuen Film bringt Radu Jude das kommunistische und das kapitalistische Bukarest zusammen, indem er seine Erzählung um eine junge Frau, die für ein Casting quer durch die Stadt fährt, einer Protagonistin eines Films aus den 80er-Jahren gegenüberstellt. Dazu kommt ein sexistischer TikTok-Avatar, der das Format sprengt.
DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD
Radu Judes schwarzhumoriger Roadtrip durch Bukarest ist voll von filmischen Referenzen und jetzt schon ein Kino-Highlight des Jahres.
DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD | Synopsis
Eine Geschichte über Kino und Wirtschaft in zwei Teilen: Die überarbeitete und unterbezahlte Angela fährt durch Bukarest, um Casting-Interviews für ein «Arbeitsschutzvideo» zu filmen, das von einem multinationalen Unternehmen in Auftrag gegeben wurde. Als einer der Interviewten die Schuld des Unternehmens an seinem Unfall aufdeckt, kommt es zu einem Skandal.
DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD lief im Wettbewerb des Locarno Film Festival 2023 und wurde mit dem Special Jury Prize ausgezeichnet.
DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD | Rezension
Von Geri Krebs
Von ihm stammen solche unvergleichliche Sätze wie: «Die erste Voraussetzung für Unsterblichkeit ist der Tod.» – oder: «Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.» Und auch der Titel des neuen Films von Radu Jude, Berlinale Gewinner von 2021 für BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN, stammt von Stanislaw Jerzy Lec, einem polnischen Lyriker, der von 1909 – 1966 gelebt hatte: DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD.
Ein Film voller verrückter Einfälle
Ich muss gestehen, ich hatte noch nie zuvor etwas von diesem polnischen Literaten und seinen unvergleichlich klugen und sarkastischen Aphorismen gehört. Und das passt perfekt zu Radu Judes neuem Film – denn ich hatte zuvor auch noch nie etwas von dem deutschen Trash- und Krawallfilmer Uwe Boll gehört und auch nicht davon, dass Rumänien das Land in Europa mit den meisten Verkehrstoten ist und dass daran im Wesentlichen ein korruptes politisches System die Schuld trägt. All das und noch viel mehr, und gleich auch noch einen etwas süsslichen rumänischen Liebesfilm um eine Taxifahrerin aus dem Jahr 1981, ANGELA MERGE MAI DEPARTE (Angela geht weiter) von Lucian Bratu, integriert Radu Jude in seinen Film mit dem rekordverdächtig langen Titel. Wie in seinem Vorgängerfilm, in dem es um eine junge Geschichtslehrerinn ging, deren Leben wegen eines Heimpornos in Turbulenzen gerät, ist auch DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD eine wilde Collage voller verrückter Einfälle. Und ebenso steht auch hier wieder eine toughe junge Frau im Zentrum, die sich gegen den Wahnsinn der aktuellen rumänischen Gesellschaft zu behaupten versucht.
Die rasende Produktionsassistentin
Angela heisst sie hier, gleich wie die Hauptfigur in dem Film von 1981. Sie wird grossartig verkörpert von Ilinca Manolache – einer Schauspielerin, mit der Radu Jude schon mehrfach zusammengearbeitet hat. Die heutige Angela ist Produktionsassistentin einer österreichischen Filmproduktionsfirma und rast durch den Verkehrsmoloch der rumänischen Metropole Bukarest. Ironischerweise produziert die besagte Filmproduktionsfirma im Auftrag der EU Videos zur Unfallverhütung am Arbeitsplatz. Mit mörderischem Termindruck im Nacken, sucht Angela Leute auf, die schwere Arbeitsunfälle erlitten haben und filmt, während die Leute erzählen. Die Filmerei ist allerdings lediglich ein Casting – denn nur dem Opfer, dessen Unfallgeschichte Angelas Chefs in Österreich am meisten überzeugt, winkt ein mieses Honorar, 500 Euro – die anderen gehen leer aus.
Meister der scharfen Beobachtung
Es sei ein Film über die Herstellung von Bildern und es sei auch so etwas wie ein unautorisiertes Remake des Films von 1981, charakterisierte Radu Jude bei seinem kürzlichen Besuch in Zürich seinen fast drei Stunden dauernden wilden Ritt gegen einen entfesselten Kapitalismus. Der Film wirkt umso länger nach, weil er keinen Moment lang anklagt oder denunziert, sondern vielmehr mit immer neuen verrückten Einfällen grossartig zu unterhalten versteht. Dabei versteht es Radu Jude meisterhaft, mit scharfer Beobachtung – die immer wieder auch dokumentarische Elemente enthält – sowie derbem Humor, eine Gesellschaft zu zeigen, in der moderne Sklaverei längst zur natürlichsten Sache der Welt geworden ist.
Fazit: Rudu Jude hat mit DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD ein verrücktes Roadmovie, einen urkomischen, unglaublich cleveren filmischen Höllentrip durch die Niederungen des alltäglichen Wahnsinns im Turbokapitalismus geschaffen. So funktioniert aktuelles politisch engagiertes Kino.