Er ist ein Provokateur, aber auch ein abgründiger Menschenkenner mit sicherem Gespür für die Reizthemen unserer Zeit. Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl war dem Wohlfühlkino immer schon ein Dorn im Auge und trotzdem hat es sein Film «Rimini» aktuell ins Kino geschafft. Kontrovers auch sein neuster Film «Sparta». Hat Seidel die jungen Darsteller:innen unvorbereitet Alkoholismus, Gewalt und Nacktheit ausgesetzt, wie es «Der Spiegel» behauptet?
Die Causa Seidl, das sind zwei Filme und ein herbeigeschriebener Skandal
Ein alternder Schlagerstar in «Rimini», ein pädophiler Mann, der ein Jugendcamp eröffnet, in «Sparta». Geri Krebs hat beide Filme gesehen.
Rimini | Synopsis
Richie Bravo, einst ein gefeierter Schlagerstar, jagt im winterlichen Rimini seinem verblichenen Ruhm hinterher. Verloren zwischen Dauerrausch und Konzerten vor Bustouristen beginnt seine Welt zu kollabieren, als plötzlich seine erwachsene Tochter in sein Leben einbricht. Sie will Geld von ihm, das er nicht hat.
Sparta | Synopsis
Ewald ist vor einigen Jahren nach Rumänien gezogen. In seinen Vierzigern sucht er einen Neuanfang, verlässt seine Freundin und zieht ins Hinterland. Mit den Burschen aus der Gegend gestaltet er eine verfallende Schule in eine Festung um. Die Buben geniessen dort eine unbeschwerte Existenz, die sie so nicht kannten. Allerdings wächst bald das Misstrauen der anderen Dorfbewohner. Und Ewald muss sich einer Wahrheit stellen, die er lange verdrängt hat.
Skandal um Sparta
Anfang September 2022 veröffentlichte «Der Spiegel» Recherchen, nach denen Kinder bei den Dreharbeiten ausgenutzt worden seien und ihre Eltern unzureichend über die Inhalte des Films informiert gewesen sein sollen. Weitere Vorwürfe wurden knapp zwei Wochen später im Wiener «Falter» veröffentlicht. Seidl weist die Vorwürfe zurück. Die ursprünglich geplante Weltpremiere beim Toronto International Film Festival 2022 wurde nach Bekanntwerden der Vorwürfe abgesagt. Die Premiere fand daher Mitte September 2022 im Rahmen des Festival Internacional de Cine de San Sebastián statt, wo der Film in den Wettbewerb um die Goldene Muschel eingeladen wurde.
Die Causa-Seidl
Provokateur und abgründiger Menschenkenner
Ulrich Seidl ist seit über dreissig Jahren ein Provokateur. Eine Gemeinsamkeit all seiner Filme besteht darin, dass eigentlich alle Protagonist:innen seiner Spiel- und Dokumentarfilme keine Sympathieträger sind. Weder die Grosswildjäger in seinem bis anhin letzten Dokumentarfilm «Safari» noch die Sextouristinnen in «Paradies: Liebe» und schon gar nicht die Altnazis in seinem Spielfilm «Im Keller». Keine dieser Personen möchte man zu seinem eigenen Freundeskreis zählen. Das Beunruhigende dabei ist aber, dass Seidl all diese unangenehmen Zeitgenoss:innen letztlich als Menschen zeigt und nicht als Monster – was es einem als Zuschauer:in nicht gerade einfach macht, sich klar von ihnen abzugrenzen. Auf einem ganz anderen Blatt steht dabei allerdings, dass für Seidl die Grenze zum Blossstellen seiner Protagonist:innen – gelinde gesagt – ziemlich flexibel ist – auch wenn er selber derartige Vorwürfe stets bestreitet.
In seinem aktuellen Werk «Sparta» hat Seidl nun mit dem Ingenieur Ewald (gespielt von Georg Friedrich) eine Figur erschaffen, die bezüglich gesellschaftlicher Ächtung auf einer Stufe steht, die noch tiefer ist als die eines Mörders oder eines Nazis: Ewald ist ein Mann in den Fünfzigern mit pädophilen Neigungen. In unseren moralisch überempfindlichen Zeiten ist es nun leider leicht möglich, dass, wenn Reizworte wie «Ausbeutung», «Grenzverletzung» oder «Pädophilie» nur schon angesprochen werden, Tugendwächter und Moralpolizistinnen reflexartig die sofortige strenge Bestrafung des Übeltäters einfordern.
Seidls heisses Eisen
So funktioniert das heute, das gibt im Gespräch auch Cyril Thurston zu bedenken. Der Zürcher Filmverleiher mit seiner Firma Xenixfilm hat Seidls Film «Rimini», der am ZFF seine Schweizer Vorpremiere feierte, ins Kino gebracht. Jahre früher hat Thruston auch schon die Seidl-Filme «Tierische Liebe» und «Import Export» herausgebracht. Ob er auch «Sparta» in sein Programm aufnimmt, ist für ihn noch offen. Ursprünglich hatte der Regisseur geplant, die Geschichte der beiden Brüder Ewald und Richie, die sich abwechselnd um ihren dementen Vater kümmern, in einem einzigen Film zu erzählen. Aus produktionstechnischen Gründen entschloss sich Seidl dann aber für zwei unabhängig voneinander funktionierende Filme. Die Brücke zwischen den beiden bildet der demenzkranke Vater, der Nazi-Lieder singt und von Hans-Michael Rehberg in seiner allerletzten Filmrolle mit grosser Intensität verkörpert wird. Der Schauspieler starb wenige Wochen nach Abschluss der Dreharbeiten und Seidl widmet ihm beide Filme. Filmverleiher Cyril Thurston lässt es derzeit noch offen, ob er auch «Sparta» ins Kino bringen wird – was für ihn, wie er im Gespräch versichert, weniger mit dem Wirbel um den Film, sondern schlicht mit finanziellen Erwägungen zu tun hat. Er sei von einem Film ausgegangen, nun aber müsste er für zwei bezahlen und nach seinen Erfahrungen, seien es eben genau die oben angesprochenen Reizthemen, die viele Leute gleich von vorne herein von einem Kinobesuch abhielten.
Richie in Rimini
In«Rimini» ist der eine Bruder, Richie, ein einstmals gefeierter Schlagerstar, der als Richie Bravo in besseren Zeiten grosse Hallen füllte. In der Gegenwart hält sich der übergewichtige, alkohol- und spielsüchtige Mann mit Shows in billigen Absteigen über Wasser. Im titelgebenden norditalienischen Badeort ist ein derartiges Etablissement der Schauplatz seiner Auftritte. Das winterlich-verschneite Rimini erstrahlt dabei in fremdartiger Schönheit. Als der beleibte Sänger, der sich gelegentlich auch als Callboy für seine ebenfalls alternden weiblichen Fans betätigt, von seiner erwachsenen und ihm längst entfremdeten Tochter überrascht wird, holt ihn die Vergangenheit ein. Man schaut dem Treiben um diese tragische Figur mit Vergnügen, aber mit der Zeit auch eher mit Mitleid zu – Seidl wie man ihn kennt. Verkörpert wird Richie Bravo vom Österreicher Michael Thomas, einem Schauspieler, der bei Seidl bereits in «Import Export» und in «Paradies: Hoffnung» zu sehen war.
Gefährliches Kopfkino
In «Sparta» sieht man zu Beginn die beiden Brüder kurz zusammen, wie sie über die Betreuung des Vaters verhandeln. Ewald wird von Georg Friedrich gespielt, einem Schauspieler, den man aus unzähligen deutschen und österreichischen Filmen kennt und der bei Seidl in seinen Spielfilmen «Hundstage» und ebenfalls «Import Export» grössere Rollen innegehabt hatte. Meist stellte Friedrich dabei eher verdruckste, schüchterne Figuren dar, so auch in «Sparta». Zu Beginn reist er nach Rumänien, zu seiner Freundin und für einen Auftrag in ein dortiges Kraftwerk. Die Freundin möchte ihn heiraten, in einer Szene folgt man den beiden auf der Suche nach einem Brautkleid in einem trostlosen Shopping Center. Doch im Bett klappt es nicht – und dann verschwindet Ewald aus dem Leben der Frau. Scheinbar ziellos fährt er mit seinem Auto in der öden, spätherbstlichen rumänischen Provinz umher, macht vor verfallenen ehemaligen Schulgebäuden Halt, spricht auf der Strasse spielende Knaben an. In unserem Kopf fangen spätestens jetzt die unaussprechlichen Vorwürfe zu kreisen an. Doch es passiert nichts. Ewald kauft ein verfallenes Schulgebäude, richtet es notdürftig her und gibt dort Kindern aus dem Dorf Judo-Kurse. «Io Professor Judo, gratis», radebrecht er auf Rumänisch gegenüber den Eltern, die misstrauisch sind, was da dieser Fremde eigentlich von ihren Kindern will. Die Judo-Schule verwandelt er in eine Art Römerlager und nennt seinen Ort Sparta. Denn welcher Junge spielt nicht gerne «Römer» mit Helm und Schwert?
In dubio …
Ewald ist nun stets von «seinen» Knaben umgeben, sexuelle Übergriffe sieht man im Film nicht. Einzig eine Szene, in der der erwachsene Mann mit den Jungs unter der Dusche steht, wäre nicht nötig gewesen. Während alle Knaben in Unterhosen duschen – und auch sonst nie nackt sind – ist Ewald neben ihnen gänzlich entblösst. Im Training tobt Ewald mit den Kindern herum, hat nahen Körperkontakt, doch zeigt Seidl ihn als Mann, der alles tut, um seine verbotenen Neigungen irgendwie im Griff zu behalten. Wenn es in «Sparta» Gewalt und Übergriffe gibt, dann finden sie in den zerrütteten Familien mit den meist gewalttätigen und alkoholkranken Vätern statt. Ewald hingegen scheint den Knaben das zu geben, was sie zu Hause nicht bekommen: Zuwendung und Fürsorge. Was die Vorwürfe betrifft, die zuerst der Spiegel aufgeworfen hat, die Knaben seien bei den Dreharbeiten ausgenutzt und die Eltern der Kinder seien von Seidl nur unzureichend über die Inhalte des Films informiert worden, gilt die Unschuldsvermutung. Bis anhin wurde keine einzige juristisch verbindliche Anklage gegen den österreichischen Regisseur erhoben. Dies betonte auch die Festivalleitung des Filmfestivals von San Sebastián in ihrem Communiqué, das sie am Tag vor der Weltpremiere von Sparta publizierte und damit auch begründete, warum sie an der Projektion des Films im Wettbewerb um die Goldene Muschel festhielt. Das Toronto International Film Festival, wo – zehn Tage vor San Sebastián – ursprünglich die Weltpremiere von «Sparta» hätte stattfinden sollen, hatte angesichts der Vorwürfe des Spiegel kalte Füsse bekommen und in einem Akt vorauseilenden Gehorsams den Film kurzfristig und kommentarlos aus dem Programm gekippt. Im Gegensatz zu den Nordamerikanern scheint man in Spanien und speziell im Baskenland – angesichts historischer Erfahrungen – offenbar sensibler zu sein, was Eingriffe in die künstlerische Freiheit betrifft.
Fazit: «Sparta» ist ein extremer, ein emotional aufwühlender Film, aber gleichzeitig ist er auch sehr zärtlich und ruhig – auch wenn es natürlich schwierig ist, ihn angesichts seines Skandalpotentials nach rein filmischen Kriterien zu beurteilen. Doch er besticht – wie üblich für Seidl – allein schon durch seine genauestens durchkomponierten Tableaus. Letzteres gilt auch für «Rimini». Doch für Seidl-Kenner:innen bietet dieser, abgesehen vom Vater-Tochter-Konflikt, wenig Neues. Im direkten Vergleich ist «Sparta» also der stärkere Film, und es bleibt zu hoffen, dass er trotz des Skandals sein Publikum findet.
arttv Filmjournalist Geri Krebs